Die Buchguerilla hat zugeschlagen: Am Welttag des Buches hat sie Hunderte Romane aus den Regalen befreit und überall in der Stadt verteilt
(aus Hinz&Kunzt 195/Mai 2009)
Auf der Straße ein schönes Buch finden und es einfach mitnehmen? Für eine Nacht machte eine Buchguerilla den Traum wahr und legte in Hamburg Hunderte Romane auf Parkbänke und Autoscheiben – aus Freude über eine Welt, die im Kopf entsteht.
Es ist 22.05 Uhr, vor einem Klinkerbau in Winterhude. Hinter gelb erleuchteten Fenstern flackert das hellblaue Licht des modernen Lagerfeuers, des Fernsehers. In einer Wohnung im zweiten Stock stehen dicht an dicht Menschen. Einige tragen T-Shirts mit der Aufschrift „Freiheit den Büchern!“. Auf dem Boden sitzt eine rothaarige Frau vor einer Kiste mit Romanen, die in Plastiktüten liegen. Noch eine halbe Stunde, dann legen Antje und ihre Freunde, getarnt als Buchguerilla, den Hamburgern Romane vor die Türe, verschwinden wieder so lautlos, wie sie gekommen sind, und hinterlassen dabei nur ein Bekennerschreiben: „Dieses Buch wurde von der Hamburger Buchguerilla aus dem Regal befreit, um Dir eine Freude zu machen!“
Am Küchentisch drängen sich sieben Guerilleros und drei Helfer. „Seid Ihr bereit?“, fragt Kerstin. Alle nicken. Antje bindet sich einen schwarzen Stoffstreifen mit zwei Löchern um den Kopf.
Ende 2008 begann alles mit einer spontanen Idee nach einer spannenden Lektüre. Die 29-Jährige hatte gerade begeistert „Traumatische Tropen“ von Nigel Barley gelesen, einem Ethnologen, der in Kamerun forscht und erlebt, wie seine Wissenschaft auf Wirklichkeit trifft. Antje ging begeistert mit dem Bericht in der Hand durch die Straßen. Wenn das doch auch andere lesen würden! Vor einem Klingelschild blieb sie stehen, „Karin“ stand darauf. Antje schrieb eine Widmung in das Buch und warf es in den Briefkasten. „Eine einmalige Geschichte. Für Dich“.
Aus der impulsiven Handlung ist eine gemeinsame Aktion von Freunden geworden, die sich aus Studienzeiten kennen. Der Tag, an dem die wundersamen Welten in Buchdeckeln in Hamburg liegen sollten, stand schnell fest; der Welttag des Buches am 23. April.
Uhrenvergleich: 22.35 Uhr. „Es geht los!“, ruft Kerstin. Alle tragen eine Kiste die Treppe hinunter bis zur Straße, und beladen zwei VW-Busse und einen Mercedes, die mit angeschalteten Warnblinkern in zweiter Reihe stehen. Seit Hinz&Kunzt im März zum ersten Mal von der geplanten Aktion berichtete und zu Buchspenden aufrief, zog die Nachricht Kreise: Lauter Reporter mit Block und Kameras begleiten sie. Türen klappern, „Abfahrt!“, ruft jemand.Ich fahre im silbernen Mercedes-Benz mit, der dem Vater von Felix gehört. Tobias lenkt.
Erstes Ziel: Abaton-Parkplatz. Im Kofferraum sind gewichtige Werke, die sich über Wochen angesammelt haben. Klassiker sind dabei, wie Thomas Manns „Zauberberg“ über ein Sanatorium und seine verschrobenen Gäste, und Bestseller wie Henning Mankells psychologischer Krimi „Die fünfte Frau“ mit einem verzweifelten Kommissar. Es sollten immer besondere Werke sein, kein Ramsch. Es gab auch Bücher, die keinen Anklang fanden, wie „Die Entwicklungen der Molkereien in Schleswig-Holstein“. In einer Bücherkiste fand Antje die gesammelten Reden Adolf Hitlers. Der Band lag in einer Kiste, die der verstorbenen Tante einer Bekannten gehört hatte. „Das haben wir schön beiseite gelegt“, sagt Antje.
Das nächtliche Hamburg zieht am Seitenfenster vorbei. „Beim Stöbern in den Büchern haben wir immer wieder tolle Zitate gefunden“, sagt Kerstin. Ihre Lieblingsstelle? Die 31-Jährige lächelt unter ihrer Panzerknacker-Augenbinde: „Sie hielt den steinharten Beweis seiner Leidenschaft fest in ihren Händen.“ Den Titel des Buches hat sie vergessen.
23.20 Uhr. Antje hat das erste Buch befreit. Nun lehnt es auf dem beleuchteten Parkplatz des Abaton an einem Schilderpfosten: „Hannas Töchter“, ein Roman von Marianne Fredriksson über eine Frau auf der Suche nach den Wurzeln ihrer Familie. Auf dem Aufkleber steht: „Ich bin kein vergessenes oder weggeworfenes Buch, sondern man hat mich aus dem Regal befreit, damit Du mich lesen kannst.“ Darunter ist eine ID-Nummer notiert. Denn die Zeilen-Zorros sind keine Kämpfer gegen digitale Welten.
Das Internet ist ihr Verbündeter. Jedes Buch haben sie bei www.bookcrossers.de registriert und auf der amerikanischen Website das Stadtviertel eingetragen, in dem sie das Buch hinlegen würden. Wer es gelesen hat und es wieder auf Reise schickt, soll es später ebenso machen. So kann jeder im Netz verfolgen, wo das Werk gerade steckt.
23.40 Uhr. Neben dem Brunnen auf dem Uni-Campus blitzt eine Taschenlampe auf. Eine
alte Dame begutachtet mit ihrem flackernden Licht die Bücher, die auf den Bänken liegen.
Sie saß den ganzen Abend schon dort. Nun flaniert sie verwundert an der nächtlichen Büchergalerie entlang. „Das Buch mit der Rosenzüchterin macht einen guten Eindruck“, sagt sie. „Da gehe ich nachher noch einmal hin.“ Sie schaltet die Taschenlampe aus und verschwindet in der Dunkelheit.
0.30 Uhr. Ich leiste Amtshilfe und ziehe einen schwarzen Koffer über das Schulterblatt. Zuvor hatten wir in der Wohnung von Felix neuen Stoff besorgt. „Wenn uns die Polizei in der Schanze anspricht, einfach mit Büchern bewerfen“, hatte er gesagt. Ein junger Mann kommt vorbei und schaut an den Hauseingang eines Supermarktes. „Ist das Werbung?“, fragt er und zeigt auf die Tüte. „Das kannst Du mitnehmen“, sage ich. Er zögert. „Gute Sache!“, und schaut sich eins näher an.
0.40 Uhr. Treffpunkt Rosenhofstraße. „Die meisten Bücher auf dem Schulterblatt sind schon weg!“, ruft Klara. Tina kommt dazu. „Ich habe ein Buch in den Schlitz eines Zigarettenautomaten gelegt“, sagt sie. „Ich nahm ‚Schande‘“.
2.24 Uhr. Am Jungfernstieg leuchten die roten Ziffern einer großen Digitaluhr. Ich gehe zum Rathausmarkt, zum letzten Treffpunkt. Fast alle Bücher sind verteilt. Viele Hamburger, die sie gesehen haben, konnten es nicht fassen: In diesen frühen Morgenstunden ist Hamburg ein Paradies der Geschichten. An der Treppe, die hinab zur Rathauspassage führt, steht eine Gruppe Jugendlicher mit Kaputzenpullis. Breitbeinig und laut. Ich mache einen Bogen. Jetzt keinen Ärger. Nicht am Tag des Buches, nicht mit der Generation Handy.
Nachtbus 603 zischt vorbei. Hat da etwas geraschelt? Auf dem Bürgersteig liegt eine Plastikhülle mit dem Aufkleber „Freiheit den Büchern!“. Sie ist leer. Der junge Mann mit schwarzem Kapuzenpulli schaut sich zu mir um, blickt auf das Buch in seiner Hand und verschwindet schnell um die Ecke.
Joachim Wehnelt
Wenn sie Buchguerillero werden wollen oder nachvollziehen möchten, wo ein Buch frei gelassen wurde: www.bookcrossers.de