Bevor Familie Bielefeld 1941 aus Hamburg deportiert wird, bringt sie ihre wertvollsten Gegenstände in Sicherheit. Freunde hüten die Stücke seitdem
für sie. Jetzt sind die Stücke in einer Ausstellung zu sehen
(aus Hinz&Kunzt 194/April 2004)
Die Schublade klemmt. Im Esszimmer ihrer Wohnung in Winterhude rüttelt Traute Olsen an den Griffen der Kommode. Da öffnet sich die Lade. Die 77-Jährige holt eine schmale Schatulle heraus und klappt den Deckel hoch. Gabeln und Messer in 800er Silber liegen auf grünem Satin, auf den Griffen ist „HB“ eingraviert. Es sind die Initialen von Helene Bielefeld, einer gebürtigen Hamburgerin, die mit ihrer Familie in der Erikastraße lebte. Auch Traute Olsen wurde in Hamburg geboren. Im Wohnzimmer erinnert sie sich, wie sich ihre Wege kreuzten.
Eppendorf, 1935. Die kleine Traute wohnt mit ihren Eltern in der Erikastraße 90. Ihr Vater Kurt hat dort einen kleinen Fischladen eröffnet. In seiner Freizeit fährt er gerne Motorrad, genau wie sein Nachbar, der ebenfalls Kurt heißt. Er wohnt schräg gegenüber, Haus 79, und hilft im Elektroladen seinen Eltern Helene und Alfred Bielefeld. Die beiden Kurts werden Freunde. Und sie bleiben es auch, als Trautes Familie nach Winterhude zieht.
Im September 1941, Traute ist fast zehn, wird ein Gesetz erlassen, dass alle Juden einen gelben Stern tragen müssen. Der Freund ihres Vaters muss auch einen tragen. „Erst da habe ich vom jüdischen Glauben der Bielefelds erfahren“, sagt Traute Olsen. „Vorher hat mich das nicht interessiert.“ Wenn Kurt Bielefeld nun in den Laden von Trautes Eltern kommt, schlägt er den Mantelkragen hoch, damit kein anderer Kunde seinen Judenstern sieht. Trautes Vater packt ihm heimlich Fisch ein.
Am 18. November 1941 wird Kurt Bielefeld nach Minsk deportiert, genau wie seine Eltern Helene und Alfred, seine Frau Marion und seine kleinen Töchter Hella und Mathel. Kurz zuvor kommt Kurt noch einmal zu Trautes Eltern. „Er überließ uns zu getreuen Händen ihren wertvollsten Besitz“, erzählt Traute Olsen. „Wunderschöne 18-teilige Silberbestecke und eine Tischlampe mit einem Fuß aus Meissener Porzellan.“ Bunt gekleidete Kinder tanzen darauf.
Familie Olsen hütete die Gegenstände bis heute. Nach fast sieben Jahrzehnten sind sie jetzt erstmals öffentlich zu sehen. Die Ausstellung „In den Tod geschickt“ im Kunsthaus Hamburg – konzipiert von Historikerin Linde Apel mit der Forschungsstelle für Zeitgeschichte – erinnert an die Opfer und beleuchtet, wie zwischen 1940 und 1945 der planmäßige Mord an Hamburgern möglich war; wie Juden, Sinti und Roma zunächst entrechtet und dann, vom Hannoverschen Bahnhof in der Nähe des Hafens aus, in Ghettos und Vernichtungslager in Ost- und Mitteleuropa gebracht wurden. In 20 Deportationszügen wurden mindestens 7692 Menschen verschleppt. Die meisten kehrten nicht in ihre Heimatstadt zurück. Auch Kurt Bielefeld und seine Familie nicht. „Wir haben uns zu Hause oft gefragt, was mit der Familie passiert ist“, erzählt Traute Olsen. Die Frage blieb offen, ohne Antwort, jahrzehntelang. Nur die Gegenstände blieben.
Bevor zum Kriegsende die alliierten Truppen kamen, vergrub Trautes Vater das Besteck, in Wachstuch gewickelt, auf einem Grundstück, um es vor Diebstahl zu schützen. Später kam es in Schatullen. Sie blieben verschlossen. Die Lampe erhielt einen Ehrenplatz im Wohnzimmer, wo heute das Bücherregal steht. Aber nur auf Zeit. „Meine Mutter wollte die Lampe dem Museum für Kunst und Gewerbe übergeben, bis wir erfuhren, dass die Lager dort übervoll sind.“ In den vergangenen Jahren lag die Lampe im Keller. Die Erinnerung blieb.
Die Ausstellung hebt nun vieles ins öffentliche Bewusstsein, das verschüttet war. Auch den Anteil der schweigenden Mehrheit in der Zeit des Nationalsozialismus. So ersteigerten viele Hamburger den Besitz ihrer deportierten Nachbarn. Herbert Ledermann zum Beispiel lebte mit seiner Frau und den zwei Kindern in der Sierichstraße 66, bis die Familie am 24. März 1943 nach Theresienstadt deportiert wurde. Kurz darauf kam ihre Wohnungseinrichtung unter den Hammer. Hamburger aus der ganzen Stadt kauften preiswert das Hab und Gut der Familie. Herbert Ledermann, seine Frau und seine Tochter Anita wurden in Auschwitz ermordet.
Traute Olsen hält inne mit ihrem Blick zurück in die Kindheit. Für sie haben das Silber und die Lampe auch nach Jahrzehnten nichts von ihrer Bedeutung verloren. „Die Erinnerung begleitet mich von Kindesbeinen an und wurde für mich zu einem fast traumatischen Lebensthema.“
Nach dem Krieg arbeitet sie in der Oberfinanzdirektion als Sekretärin des Finanzpräsidenten. Zwischen 1940 und 1945 hatte das Oberfinanzpräsidium die Erlöse aus Versteigerungen jüdischen Besitzes erhalten. „Es gab zu meiner Zeit nie den Versuch, die Vergangenheit der Behörde aufzuarbeiten“, sagt sie.
Als sie 2007 die Zeitung aufschlägt, liest sie von den Stolpersteinen, die der Künstler Gunter Demnig in Erinnerung an die ermordeten Menschen in ganz Deutschland setzt. Das weckt auch ihre eigene Erinnerung. Sie schreibt an das Hamburger Staatsarchiv in der Kattunbleiche 19. So erfährt sie die Nummer des Hauses, in dem die Bielefelds wohnten, und bekommt es Schwarz auf Weiß: Die ganze Familie wurde in Minsk ermordet. Am 21. Mai 2008 stehen Traute und Olaf Olsen vor dem Haus Erikastraße 79 und legen Blumensträuße zu den frisch verlegten Stolpersteinen für die Familie Bielefeld. Kurz darauf bekommt Traute Olsen durch den Kontakt mit der Kulturbehörde, die für die Stolpersteine in Hamburg zuständig ist, eine Verbindung zu den Kuratoren der Ausstellung im Kunsthaus. Die Lampe und ein Teil des Bestecks sind nun hinter einer Vitrine zu sehen. „Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen“, sagt Traute Olsen.
Nun kommt ihre Tochter Tomma im April aus New York nach Hamburg. Dann will die ganze Familie in die Ausstellung gehen und die Gegenstände anschauen, die Familie Olsen ein Leben lang hütete und die nun jeden erinnern: Es gab die Familie Bielefeld. Sie lebte mitten in Hamburg.