Kapitän Hans Peter Jürgens heuerte mit 15 als Schiffsjunge auf der Viermastbark „Priwall“ an. Bei dieser Orkanfahrt erfuhr er, warum Gott Kap Hoorn im Zorn erschaffen hat
(aus Hinz&Kunzt 192/Februar 2009)
Schietwetter in Hamburg, und bannig ungemütlich ist es um diese Jahreszeit. Das alles ist aber gar nichts gegen das, was Kapitän Hans Peter Jürgens bei einer Orkanfahrt rund um Kap Hoorn erlebt hat. 1939 hatte er, damals 15 Jahre alt, als Schiffsjunge auf der „Priwall“ angeheuert. Es war die letzte Frachtreise des Großseglers. Jürgens überlebte und erzählte knapp 70 Jahre später dem Journalisten Stefan Krücken seine Geschichte. Daraus entstand das Buch „Sturmkap“. Hinz&Kunzt druckt Auszüge aus dem ersten Kapitel.
14. Mai 1939: Abschied im Hafen von Hamburg
Hamburgs Hafen wirkte auf mich wie ein Jahrmarkt, ein Durcheinander von Fähren, Elbkähnen und Schuten. Auf den Landungsbrücken hörte man das Dröhnen der Niethämmer, das herüberdrang von den Werften, von Blohm & Voss. Es roch nach dem Ruß und dem schwarzen Qualm, der aus unzähligen Schornsteinen der Dampfer in den Himmel aufstieg. An trüben Tagen hing der Rauch wie eine dunkelgraue Glocke über dem Hafen. Die meisten Schiffe lagen nicht an einer Kaimauer, sondern waren an Pfählen festgemacht, Bordwand an Bordwand. Wenn ein Besatzungsmitglied an Land wollte, setzte man an die Signalflagge „N“ eine Flagge aus kleinen Karos in Blau und Weiß. Dann wartete der Seemann auf das Wassertaxi. Zahllose kleine Fähren verkehrten in den Hafenbecken.
Es war ein warmer Tag im Mai, die Sonne schien aus einem Himmel ohne Wolken, als mein Vater und ich in Richtung Rödingsmarkt spazierten. Ich sollte mich in einem der Geschäfte für Seemannszubehör einkleiden: Seestiefel, Ölzeug, Unterhosen aus Wolle kauften wir. Frühmorgens waren wir in Cuxhaven aufgebrochen und in den Zug gestiegen, der von einer schwer keuchenden, alten Dampflok gezogen wurde. Vater sprach nicht viel, er sprach nie besonders viel. Mein Vater war ein angesehener Kapitän, eine Autoritätsperson, die Leute mit einem Blick zum Schweigen bringen konnte. Er hatte es möglich gemacht, dass ich, 15 Jahre alt, als Schiffsjunge auf die „Priwall“ kam. Nach dem Einkauf trug ich einen Seesack auf der Schulter, und wir spazierten hinunter zu den Landungsbrücken, wo wir auf die Fähre warteten. Die „Priwall“ lag in einem der Gräben genau gegenüber von St. Pauli, wo sie mit Kali und Stückgut beladen wurde. Erster Zielhafen sollte Corral sein, eine Hafenstadt in Chile. Ich konnte in meinem Kopf hören, wie mein Herz schlug, als die Fähre lostuckerte und wir den Masten der „Priwall“ näherkamen.
Wir gingen an Deck, und ich glaubte zu träumen, so beeindruckt war ich von der Höhe der Masten, vom Gewirr der Takelage, die sich wie ein gewaltiges Spinnennetz über uns spannte. Der dritte Offizier nahm uns in Empfang und zeigte das Schiff. Vater nahm mich noch einmal in den Arm. Er sagte nichts, drückte mich nur an sich. Dann ging er wortlos über die Gangway. Ich sah ihm hinterher, als er an Bord der nächsten Fähre stieg, die langsam in Richtung der Landungsbrücken davonfuhr. Ich fühlte mich einsam, doch ich beruhigte mich: Schon Weihnachten sollte ich wieder zu Hause sein. In sieben Monaten war ich zurück. Was sollte dazwischenkommen?
Am Morgen des 16. Mai warfen wir die Leinen los. Unter einem blauen Himmel zog uns Schlepper „Simson“ Richtung Nordsee. Langsam schoben wir die Elbe hinunter und verabschiedeten St. Pauli und Blankenese nach einem alten Brauch mit „Three Cheers“: „Hipp, hippp, hurra!“ Dann wurde der Fluss breiter. Ein letzter Abschiedsgruß ertönte, als wir den Reededampfer, die „Alte Liebe“, vor Cuxhaven passierten. Schlepper „Simson“ dampfte davon, und auf der „Priwall“ setzte man die Segel. Bald darauf verschwand die Küstenlinie hinter dem Horizont.
Salzgemüse und „Spechts Geheimnis“
Unter vollen Segeln passierte die „Priwall“ die Leuchttürme der bretonischen Insel Ouessant und steuerte hinaus auf den Atlantik. Unsere Verpflegung war miserabel, was Qualität und Menge betraf. Das Essen war unser Gesprächsthema Nummer eins: Eine traurige Dauerdiät aus Hülsenfrüchten, aus Salzgemüse, aus ekligem Salzfleisch und gesalzenem Speck, aus Haferschleim und „Spechts Geheimnis“. So hieß der Kaffee, oder besser gesagt eine Art Kaffee, der aus
gepressten Kaffeeplatten gekocht wurde. Diese sahen aus wie Schokoladenriegel, schmeckten aber äußerst bitter. Zwei Riegel genügten, um eine Kanne zu füllen, aber niemand wollte wissen, was eigentlich das Geheimnis von „Spechts Geheimis“ war.
Besonders das Salzfleisch, in stinkenden Fässern gelagert, und die Kartoffeln waren, je länger die Reise dauerte, kaum zu genießen und gerade noch im Labskaus zu ertragen. Frische Kartoffeln faulten in der feuchten Seeluft schnell und verbreiteten einen penetranten Gestank. Sie wurden durch getrocknete Kartoffeln ersetzt, eine sonderbare Erfindung mit eigenartigem Geschmack. Wie wir erfuhren, hatten manche unserer gesalzenen Mahlzeiten – eine Kühlung gab es an Bord nicht – bereits mehrfach den Äquator gequert.
Juli 1939: Der Sturm ist wie ein lebendes Wesen
Je näher wir Kap Hoorn kamen, desto mehr verschlechterte sich das Wetter. Die „Priwall“ kämpfte sich durch eine anthrazitgraue, von Schaumkronen bedeckte See unter einem bedrohlichen Himmel in der Farbe von Beton. Das Schiff legte sich schwer auf die Seite. Wir kreuzten gegen den Sturm auf der mühsamen Route von Ost nach West um Kap Hoorn, die jeder Segelschiffmann fürchtet. Jede Seemeile, die wir vorankamen, mussten wir uns bitter erkämpfen.
Mitte Juli überquerten wir den 50. Breitengrad. Wir zogen das Ölzeug und die ledernen Seestiefel nur noch selten aus. Wer Wache hatte, konnte sich oft nur mit Mühe auf den Beinen halten, weil das Schiff schwer in der See rollte und gewaltige Brecher überkamen. Oft genug hielt man sich an den Tauen fest, spürte, wie die Wassermassen am Ölzeug rissen, und japste nach Luft. Der Kapitän stand im Sturm, wenn er es für erforderlich hielt, auf der dem Wind zugewandten Seite des Hochdecks, um rechtzeitig Böen oder Windwechsel zu sehen, die Segelmanöver erforderlich machten. Er wachte dort alleine, unter seinem alten, bräunlichen Filzhut, den er sich tief ins Gesicht gezogen hatte.
An den Lärm des Sturmes muss man sich erst gewöhnen. An sein Heulen und Pfeifen in allen Tonlagen, an sein Brüllen, an das Donnern der Brecher an Deck, an das Stöhnen und Jaulen, das einen am Tage und in der Nacht begleitet. Aber nach zwei Monaten auf See hat man Vertrauen zum Schiff und bekommt ein Verhältnis zum Sturm, als sei er ein lebendes Wesen.
Es war an einem Sonntagmorgen, an dem eine kalte Sonne am Himmel stand und fahles Licht über einer See aus milchigem Grau lag, als ich Steuerbord voraus die Staateninsel vor Kap Hoorn sah. Ich war gerade damit beschäftigt, den Kohlenvorrat der Kombüse aufzufüllen. Wie eine tief liegende Wolke sah das Eiland aus. Einer der Offiziere, der gerade vorbeikam, raunte mir zu: „Sieh es dir genau an: Dahinten ist der Eingang zur Hölle.“
„Gott hat Kap Hoorn im Zorn erschaffen“
Der Kapitän hatte sich entschieden, wegen der schweren See und der unsicheren Wetterlage die Insel außen zu passieren, obwohl die Le-Maire-Straße für uns eine erhebliche Abkürzung bedeutet hätte. Es erschien ihm sicherer. Er war vorsichtig – und er behielt recht mit der Wahl seiner Route.
Schwere Stürme setzten uns zu. Eine Zeit der Ent-
behrungen begann, die im Rückblick betrachtet seltsam zeitlos erscheint. Wochen und Tage und Stunden verschmolzen. Die Zeit verklebte, sie verklumpte, weil sie keine Bedeutung hatte in den Stürmen von Kap Hoorn. Man war auf den Augenblick konzentriert, man lebte nur noch für die nächsten Minuten, in denen man überleben wollte.
Meine Fingerbeugen waren vor Kälte und Anstrengung aufgeplatzt. Das nasse Ölzeug hatte meine Handgelenke und den Nacken blutig gescheuert. Wir legten uns mit der Kleidung in unsere Kojen, auf dünne Matratzen aus Stroh, die völlig durchnässt waren. Eisiges Wasser schwappte durch die Logis. Es war kalt in den Kammern, so kalt wie draußen an Deck, denn es gab keine Heizung und keinen Ofen und keine Wärme in den Unterkünften der Mannschaft. An Schlaf war kaum zu denken. Wenn es überhaupt eine Pause gab, dauerte sie höchstens drei Stunden, die sich anfühlten wie drei Minuten. Bis wir wieder den Befehl hörten: „Reise, Reise! Alle Mann an Deck!“ Uns blieb nicht mal Zeit für Albträume.
Jeder kämpfte seinen eigenen Kampf. Natürlich raunte man einem Kameraden etwas zu, wenn er nicht aus der Koje aufstehen mochte, wenn er verzweifelt zu sein schien: „Komm, das schaffen wir! Ist bald vorbei.“ Aber die grauen Gedanken konnte nur jeder für sich vertreiben. Ganz selten gestattete man uns eine „Smoketime“, dann ging es wieder zum Segelmanöver.
Brecher überspülten das Deck, über das zusätzliche Taue und „Leichennetze“ gespannt waren, und man muss-te aufpassen, dass immer eine Leine in der Nähe war, an der man sich festhalten konnte. Über Bord zu gehen, das bedeutete in diesem Wetter den sicheren Tod, weil es für den Kapitän unmöglich war, sein Schiff zu wenden oder ein Rettungsboot aussetzen zu lassen. „Gott hat Kap Hoorn im Zorn erschaffen“, meinte unser Kapitän Adolf Hauth. In keinem anderen Gebiet der Weltmeere verloren so viele Seeleute das Leben. Knapp 800 Schiffe, so schätzt man, sanken im Sturm oder zerschellten an den Klippen, mehr als 10.000 Menschen ertranken.
Jeder, der einmal bis an den Rand der Ohnmacht müde war, weiß, dass dieser Zustand körperliche Schmerzen verursacht. Ich tappte und wankte nach dem Wecken durch die Kammer, versuchte mich zu orientieren in der schwankenden Welt, die in der See hin und her rollte. Ohne vollends bei Sinnen zu sein, mit einem Körper, der sich taub anfühlte, weil er steif gefroren schien vor Kälte. Dann schwang die Stahltür zum Deck auf, und man stand wieder in diesem brüllenden, nassen, eisigkalten Inferno.
Unsere Erschöpfung war nach Wochen im Orkan in einer Sphäre angelangt, in der das Unterbewusstsein das Kommando über den Körper übernahm. Wir waren mit unseren Kräften am Ende. Wir funktionierten nur noch, irgendwie, um die Strapazen zu beenden. Um das Kap zu überleben. Wieder und wieder mussten wir hinauf in die Rahen, um Segel zu bergen. Sicherheitsleinen gab es dort oben nicht. Aber Angst? Angst spürte ich nicht, das war seltsam. Ich dachte nur an den Augenblick. Daran, wie ich die nächste halbe Stunde überlebe. Ich hoffte, dass mein Körper nicht einfach versagt, nicht aufgibt vor Müdigkeit. In manchen Momenten fragte ich mich: Kann ich das noch ertragen? Es wäre so einfach gewesen: Nur die Hände von der Rahe nehmen. Mich nach hinten fallen lassen. Sollte ich die Qual beenden?
Nach drei Wochen wieder Zuversicht an Bord
Drei Wochen lang wütete der Sturm vor Kap Hoorn, ohne Atem zu holen. Dann hatten wir es geschafft. Als wir den 50. Breitengrad Richtung Norden passierten, ließ der Wind nach. Man konnte die Erleichterung an Bord der „Priwall“ spüren. Die Männer lächelten wieder, es wurde wieder geflachst. Die Zuversicht kehrte zurück. Wir hatten die gefährliche Passage überstanden, ohne jemanden aus der Mannschaft zu verlieren. Ohne dass jemand ernsthaft verletzt wurde. Aber wir waren am Ende unserer Kräfte, und „Schweinsbeulen“ plagten uns. „Schweinsbeulen“ nannten wir im Bordjargon Furunkel, die durch den vitaminarmen Dauerproviant und das ständige Scheuern des Ölzeugs am Nacken gewuchert waren. Sie behinderten einen beim Drehen des Kopfes und setzten uns auch seelisch zu.
Wir trugen unsere durchnässten Strohmatratzen aufs Poopdeck, wo wir sie zum Trocknen auslegten. Wir wuschen unsere Kleidung, die durch die Feuchtigkeit grünen Span angesetzt hatte. Wir lüfteten das ganze Schiff. Kein trockener Faden war mehr an Bord gewesen – nun flatterte die Kleidung in der frischen Brise, die den säuerlichen, fauligen Gestank vertrieb, den man überall in den Unterkünften roch. Und wir konnten schlafen. Endlich schlafen. Es ist kaum zu beschreiben, wie herrlich erholt man sich nach dreieinhalb Stunden Ruhepause fühlen kann. Nach einigen Tagen, in denen wir wieder einigermaßen zu Kräften kamen, spürten wir eine Art Euphorie, vor allem wir Schiffsjungen. Wir hatten Kap Hoorn bezwungen, im Winter, auf der Route gegen den Sturm. Zurück ums Kap hatten wir den Wind von achtern in den Segeln. Alles, was nun kam, erschien wie eine Kleinigkeit. Nach 84 Tagen auf See waren wir am Ziel: In der Dunkelheit erreichte die „Priwall“ den Hafen von Corral in Chile.
3. September 1939: „Krieg, es ist Krieg!“
„Krieg, es ist Krieg!“ Die Nachricht verbreitete sich innerhalb weniger Minuten an Bord. Die Offiziere und Matrosen wirkten ernst, als sie die Meldung hörten. Wir Jüngeren hingegen machten uns nur wenige Gedanken. Europa lag drei Monatsreisen weit entfernt. Weil wir uns in chilenischen Hoheitsgewässern befanden, bestand nicht die Gefahr eines Angriffs, doch allen an Bord war klar, dass wir nun festlagen. Im Kriegsfall ist man auf einem Segelschiff seinen motorisierten Feinden schutzlos ausgeliefert.
Erst sieben Jahre später sollte ich nach Deutschland
zurückkehren. Heute bin ich 84 Jahre alt. Ich war das jüngste Besatzungsmitglied der „Priwall“, des letzten Großseglers, der die beschwerliche Route von Ost nach West gegen den Wind antrat. Und ich war der letzte Vorsitzende der deutschen Sektion der Kap Hoorniers, die sich 2004 auflöste, weil nur noch wenige von uns leben. Der Letzte von uns wird unsere Flagge, die ein Albatros ziert, mit ins Grab nehmen.