Reise ins Ungewisse

Ihr Ur-Urgroßvater wanderte nach Amerika aus. Was aus ihm wurde, wusste niemand. Bis Autorin Lara Louwien aus Langeweile im Internet stöberte

(aus Hinz&Kunzt 161/Juli 2006)

Allein die Hoffnung trieb Heinrich Louwien aus Altona 1872 weit über die Grenzen Europas hinaus bis in die USA. Für eine ungewisse Zukunft in der Fremde verließ er Heimat und Familie. Der Auswanderer nahm Abschied für immer. Die Nachfahren haben sich im Internet wiedergetroffen.

„Boy was I glad! – Mensch, hab ich mich gefreut! Als ich gesehen habe, dass sich jemand meldet, war ich so aufgeregt.“ Mir schreibt Georg Lloyd Louwien, Spitzname Toby, 71 Jahre alt, aus Amerika. Genauer Dallas, Texas. Dort war ich nie, und ich kenne den Mann auch gar nicht. Was ihn aber so freut und uns verbindet, ist der gemeinsame Name. Denn Toby und ich haben einen gemeinsamen Ur-Urgroßvater.

Aus Langeweile und Neugier hatte ich meinen Namen bei Google eingetippt und war auf der Homepage „The Louwiens of Texas“ gelandet. Dort berichtete Toby von der Suche nach den Wurzeln seiner Familie. Wer irgendetwas wisse, bat er eindringlich, solle sich melden. Zehn Jahre forscht er schon an der Familiengeschichte, die für ihn 1872 in Galveston, Texas beginnt, als Henry Louwien das Dampfschiff „Germania“ verlässt, um ein neues Leben in den USA zu beginnen. Da war er 29 Jahre alt, offenbar gut informiert, zielstrebig und keinesfalls mittellos.

Denn „der kräftige junge Mann verlor keine Zeit, beschaffte sich ein Ochsengespann und machte sich direkt auf den Weg nach Bellville, wo er nach tagelanger Reise ankam“. So steht es in einem Geschichtsbuch mit dem Titel „Die Gründerväter von Bellville und ihr Vermächtnis“, das Toby in der örtlichen Bibliothek gefunden hat und das den Louwiens immerhin vier Seiten widmet. Sie sind dort also nicht gescheitert. Im Gegenteil: Henry schien es sofort zu gefallen – sein erster Sommer im subtropisch-heißen Klima in dem kleinen Örtchen Bellville mit seinen 300 überwiegend deutschstämmigen Einwohnern. 1872 gab es dort eine Post mit den berühmten Postkutschen, ein Gerichts- und Amtsgebäude und einige Dutzend Geschäftsleute. Sicherlich auch eine Kirche. Aber noch keine Eisenbahn. Die erreichte Bellville erst im Winter 1880. Vom neuen Leben berichtete Henry Louwien möglicherweise in Briefen, die er an seine Familie nach Altona schickte. Denn schon bald, im November 1872, machte sich sein 19 Jahre alter Bruder Gustav auf nach Bellville. Das Leben in Altona hatte auch für ihn keine Zukunft mehr.

Sie waren vier Kinder, mindestens. Genau wissen wir es nicht: Henry, der als deutscher Heinrich auf die Welt kam, Maria Emilia, Gustav und der Jüngste, Louis. uneheliche, aber getaufte Kinder des Tischlers Christian Elias Louwien und seiner Frau Anna.

1833 war Christian mit 18 Jahren aus dem Kurhessischen in die holsteinische, von Dänen regierte Handelsstadt Altona gekommen. Eine Broschüre aus der Zeit wirbt für „eine freundliche und ansehnliche Stadt, mit sechs Kirchen und 61 gut gepflasterten und sehr reinlich gehaltenen Straßen, die nachts erleuchtet sind“. Altona ging es gut.

Christian machte sich in der Königstraße als Kofferbauer selbstständig und gründete eine Familie mit seiner Freundin Anna. Es muss wahre Liebe gewesen sein. Sie durften nämlich nicht heiraten, weil Christian keinen Pass besaß. Ohne irgendwelche Ausweispapiere war er nach Altona gekommen. Hinweise, dass ihnen die wilde Ehe im Alltag Schwierigkeiten bereitete, gibt es nicht.

Aber wirtschaftlich wurde es ab Mitte des Jahrhunderts immer schwieriger. 1864 freuten sich die Altonaer noch über das Ende der zunehmend repressiven dänischen Herrschaft. Vor allem die österreichischen Truppen wurden in den Straßen bejubelt. Vielleicht winkten auch Christian und Anna mit ihren Kindern den Soldatenregimentern zu, die an ihrer Werkstatt vorbei über die Königstraße in die Stadt zogen. Aber alle Hoffnungen auf Freiheit und Wohlstand zerschlugen sich. Altona geriet unter preußische Herrschaft, die Steuern stiegen innerhalb kurzer Zeit auf das Fünffache, verschärfte Zollvorschriften lähmten Handel und Gewerbe. Die Menschen verarmten, gleichzeitig drängten immer mehr in die Stadt. Innerhalb von 20 Jahren – 1864 bis 1885 – verdoppelte sich die Einwohnerzahl auf mehr als 100.000. Aber wer kaufte in diesen Zeiten Christian Louwiens Koffer? Lohnende Aufträge waren rar. Im Schatten Hamburgs wurde Altona immer provinzieller. Wir wissen nicht, wie die Louwiens über die Runden kamen. Ganz schlecht kann es nicht gewesen sein, aber eben auch nicht gut. Und es fehlte die Perspektive. Den ältesten Söhnen Henry und Gustav konnten Altona und ganz Europa nicht genug bieten. Ihre Antwort hieß Amerika.

Beide arbeiteten dort anfangs als Tischler. Vom Vater hatten sie das Handwerk gelernt, und in Bellville waren ihre Fähigkeiten gefragt. Insbesondere Henry war bald gut im Geschäft. Er baute Särge. Vor allem im Auftrag der örtlichen Verwaltung, die für die Armenbegräbnisse aufkommen musste. Die Preise für die Särge variierten von sechs bis 18 Dollar pro Stück. Protokolle zeigen, dass der Gemeinderat von Bellville in den 1880er-Jahren auf nahezu jeder Sitzung Rechnungen von Henry Louwien für Särge bewilligte. Es wurde viel gestorben, und das machte ihn zu einem in der Region weit bekannten und geachteten Geschäftsmann. Darüber hinaus handelte er mit Möbeln und Kücheneinrichtungen. 1892, 20 Jahre nach seiner Ankunft in Amerika, wurde er in das Direktorium der örtlichen Bank gewählt – klingt nach Aufsichtsratsposten in heutiger Zeit. Zur Jahrhundertwende bewohnte er eine der größten und prächtigsten Villen im Ort.

Geschäftssinn zeigte auch sein jüngerer Bruder Gustav – und zwar als Kneipenbesitzer. Ihm gehörte der älteste Saloon der Stadt. Zentral gelegen in der Hauptstaße gegenüber dem Verladeplatz, wo die Farmer ihre Baumwollernte von Pferdewagen auf den Zug Richtung Norden luden. „Kaltes Bier, Limonade, Soda und Mineralwasser. Frisches Essen stets vorrätig“, annoncierte er im „Bellville Wochenblatt“. Später eröffnete er noch ein Kaufhaus. Beides lief so gut, dass er seine zwölfköpfige Familie ernähren konnte. Auch Henry hatte Familie. Vier Söhne, zwei Töchter. Um 1900 übergab er seine Firma an seinen Sohn Adolf, mit dem er auch noch einmal zurück nach Altona reiste.

Den Zurückgebliebenen ging es wieder besser. Die Eltern Christian und Anna durften 1881 mit fast 70 endlich heiraten. Der dritte Bruder Louis hatte es gewagt und sich 1886 ebenfalls als Tischler selbständig gemacht. Er ließ in der Blumenstraße (heute Billrothstraße) ein vierstöckiges Mietshaus mit einem Werkstattgebäude auf dem Hinterhof bauen. Dort blieb die Möbeltischlerei nahezu 100 Jahre. Anfang der 80er-Jahre wurden die Gebäude im Zuge der Sanierung Altonas abgerissen. Die Firma gibt es aber noch. Mein Bruder tischlert in fünfter Generation.

In Texas leben heute etwa 25 Nachfahren von Henry und Gustav, die den Namen Louwien tragen. Ein Tischler ist nicht mehr dabei. Toby war Arbeiter in der Ölindustrie. Jetzt ist er Rentner und pflegt sein Hobby. Er zeichnet Stammbäume, sammelt alte Fotos, stöbert durch Archive und Bibliotheken, immer auf der Suche nach der Geschichte seiner Familie.

Lara Louwien

Henry und Gustav Louwien sind zwei von mehr als 50 Millionen Auswanderern, die zwischen 1815 und 1940 Europa verließen. Für etwa fünf Millionen von ihnen war Hamburg das „Tor zur Welt“. Hier gingen sie an Bord auf die ungewisse Reise nach Übersee.

Die Massenwanderungen des 19. Jahrhunderts können in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden. Und Hamburg war zeitweise der bedeutendste Auswandererhafen Europas. Dennoch erinnert hier kein Denkmal und keine Ausstellung an die Schicksale der Auswanderer. Das soll sich ändern. Derzeit werden einige der so genannten Auswandererhallen auf der Veddel neu erbaut. Vor 100 Jahren wurden die Auswanderer während der oft wochenlangen Wartezeit bis zur Einschiffung in den Hallen untergebracht. In dem Nachbau an historischer Stelle entsteht nun ein privat betriebenes Erlebnismuseum. Eröffnung soll im Juli 2007 sein.

In dem Museum sollen die Besucher auch nach eigenen Vorfahren forschen können, etwa über die Datenbank „Link to your roots“. Dahinter verbirgt sich das ehrgeizige Vorhaben des Hamburger Staatsarchivs, Passagierlisten der Auswandererschiffe zu digitalisieren. Die Hamburger Listen von 1850 bis 1934 sind vollständig erhalten. Schon jetzt sind Informationen zu mehr als 2,3 Millionen Passagieren im Internet abrufbar. Darüber hinaus hilft das Team von „Link to your roots“ auch bei der weiteren Erforschung der Familiengeschichte. Für 45 Euro die Stunde steigen die Historiker ins Archiv. Allein im vergangenen Jahr hat das Recherche-Team von „Link to your roots“ 1700 Anfragen aus aller Welt beantwortet.