Reich durch Hartz IV?

„In der Anreizfalle“: Wie eine Fernseh-Talkrunde Ressentiments gegenüber Arbeitslosen schürt und Halbwahrheiten verbreitet

(aus Hinz&Kunzt 161/Juli 2006)

„Arm durch Arbeit, reich durch Hartz IV? “ Eine unglaubliche These, die Sabine Christiansens Redaktion da in der Sendung vom 28. Mai aufstellte. Fünf Behauptungen aus dem einstündigen Politik-Talk – und was an ihnen dran ist.

1. Behauptung: Hartz-IV-Empfänger bekommen 2000 Euro pro Monat

Dr. Markus Söder, Generalsekretär der CSU: „Wir haben da eine Situation geschaffen, dass jemand, der bei Hartz IV ist – zum Beispiel verheiratet mit Kindern – im Monat fast bis zu 2000 Euro an allen möglichen Zuschlägen bekommt. Das ist deutlich mehr als jemand, der als Busfahrer oder Kassiererin arbeitet. Das kann nicht sein.“


Hans-Ulrich Jörges, stellvertretender Chefredakteur des Stern:
„Wenn das System so ist, wenn jemand bei Hartz IV im günstigsten Fall eine Leistung bekommt, die einem Stundenlohn zwischen 10 bis 12 Euro entspricht, und ein Bauarbeiter verdient tariflich zwischen 8 und 10 Euro, ist das nicht in Ordnung.“

Kommentatorin im Einspielfilm der Sendung: „Deutsche Arbeitslose stecken in der Anreizfalle. Solange auf dem Spargelfeld, im Friseursalon oder in der Backstube kaum mehr verdient wird, als viele Hartz-IV-Empfänger zum Leben haben, fehlt der Anreiz zur Erwerbsarbeit.“

Kein Wunder, dass bei so einem Verdienst niemand mehr arbeitet! Hans-Ulrich Jörges hat die angeblich fast 2000 Euro in seiner Stern-Kolumne erwähnt und auch gleich auf den Stundenlohn runtergerechnet.

Allerdings: 2000 Euro sind völlig weltfremd. Eine Familie in Westdeutschland mit zwei Kindern, die älter als 14 sind, bekommt 1174 Euro an Regelsätzen. Allerdings wird dabei das Kindergeld (154 Euro pro Kind) voll angerechnet – ausbezahlt bekommen Arbeitslosengeld(ALG)-II-Empfänger also nur 866 Euro. Dazu übernimmt das Amt die Warmmiete. Die Höhe richtet sich nach dem Mietniveau am Wohnort, durchschnittlich sind das bei vier Personen 421 Euro.

Eine vierköpfige Familie bekommt also 1287 Euro. Und das auch nur im „Idealfall“, also in Westdeutschland, beide Eltern müssen arbeitslos sein und beide Kinder über 14. Sonst ist der Regelsatz deutlich geringer. Durchschnittlich, so die Agentur für Arbeit, kommt eine vierköpfige Familie nur auf 919 Euro.

„Alle möglichen Zuschläge“, die Markus Söder vermutet, sieht Hartz IV nicht vor. Es gibt genau zwei Zuschläge, so die Bundesagentur. Einen Zuschlag, um den Übergang von Arbeitslosengeld auf Sozialhilfeniveau abzufedern. Den gibt es zwei Jahre lang, er richtet sich nach der Höhe des bezogenen Arbeitslosengeldes, maximal sind das bei einer vierköpfigen Familie im ersten Jahr 440 und im zweiten 220 Euro. Außerdem gibt es die Zuschläge für Menschen mit besonderem Bedarf. Im Einzelnen sind das 17 Prozent des Regelsatzes für werdende Mütter, maximal 60 Prozent für Alleinerziehende, 35 Prozent für Behinderte, Mehrbedarf für medizinische Diät in angemessener Höhe – beispielsweise bei Diabetikern 51,13 Euro.

Auf einen Betrag von 2000 Euro kommt so ein verschwindend geringer Anteil von 0,1 Prozent der Hartz-IV-Familien mit zwei Kindern. Selbst bei denen hinkt der Vergleich mit dem Stundenlohn der Geringverdiener. Zum einen bekommen Arbeitnehmer Zuschläge wie Urlaubs- oder Weihnachtsgeld. Außerdem wird davon ausgegangen, dass ein Geringverdiener mit seinem Stundenlohn die ganze Familie ernähren muss – während beim ALG-II-Satz von zwei arbeitslosen Empfängern ausgegangen wird. So reduziert sich Jörges utopischer 12-Euro-Stundenlohn auf 6 Euro.

Um den „Lohnabstand“ wirklich beurteilen zu können, müsste man die Rechnung für einen alleinstehenden ALG-II-Empfänger aufstellen. Beispielsweise in Hamburg: Der bekommt 345 Euro, dazu kommen selbst in der teuren Hansestadt 370 Euro für Wohnung – ergibt 715 Euro und bei einer 38,5-Stunden-Woche einen Stundenlohn von 4,30 Euro. Zum Vergleich: Im Friseursalon liegt in Hamburg der Ecklohn bei 1228 Euro (netto bleiben davon noch mehr als 900 Euro), in der Backstube bei 11,71 Euro die Stunde. Und selbst die niedersächsischen Spargelbauern zahlten 5,42 Euro pro Stunde an ihre Saisonarbeiter.

Dennoch forderte Söder auf Grundlage „seiner Zahlen“ bei Christiansen gleich eine Gesetzesänderung: „Ich glaube, die Realität gibt einfach klar vor, dass eine Veränderung notwendig ist. Wir brauchen eine strukturelle Reform (…) Wir brauchen dringend eine Veränderung und die Veränderung heißt: Wer arbeitet muss mehr haben als wer nicht arbeitet. Und das muss endlich auch Gesetz werden.“ Applaus vom Studiopublikum.

Wir haben Markus Söder, Hans-Ulrich Jörges und die Redaktion von Sabine Christiansen schriftlich gefragt, wie viele Menschen nach ihren Informationen auf 2000 Euro pro Monat kommen – bis Redaktionsschluss haben wir keine Antwort bekommen.

2. Behauptung: Mit Hartz IV ist das Sozialsystem komfortabler geworden

Hans-Ulrich Jörges: „Nun stellen wir fest, wenn wir die Zahlen angucken, wir haben einen sehr komfortablen Ausbau des Sozialstaates erlebt durch Hartz IV.“

Hans-Ulrich Jörges: „Diejenigen, die aus Arbeit gekommen sind und arbeitslos geworden sind und die Beiträge gezahlt haben, denen kommt Hartz IV sehr hart. Während die, die nicht gearbeitet haben, aus der Sozialhilfe kommen, eigentlich gewonnen haben, und zwar deutlich. Das hat natürlich die Wirkung, dass die keinen Druck spüren, Jobs, die ihnen angeboten werden, anzunehmen, sie haben sich ja relativ verbessert.“

Hans-Ulrich Jörges: „Es gibt in Deutschland ja Dynastien von Sozialhilfeempfängern, die in der zweiten, dritten Generation von Sozialhilfe leben, die haben sich so relativ verbessert, warum sollen die Arbeit nachgehen?“

Komfortabler Ausbau? Deutlicher Gewinn? Das stimmt nicht: „Eine Verbesserung ist für Sozialhilfeempfänger nicht eingetreten“, stellt Katja Havemeister von der Hamburger Sozialbehörde klar. „Zwar hat sich der Regelsatz von 296 Euro auf 345 Euro erhöht. Damit einher geht aber zugleich die Einbeziehung nahezu sämtlicher einmaliger Leistungen in den Regelsatz. Auch Haushaltsgeräte wie Kühlschrank oder Fernseher, Bekleidung und Schuhe oder die Renovierung der Wohnung sind vollständig aus dem Regelsatz zu tragen.“

Wir haben Hans-Ulrich Jörges gefragt, ob er den „komfortablen Ausbau“ mit Zahlen belegen kann – bis Redaktionsschluss haben wir keine Antwort bekommen.

3. Behauptung: Alle können sich bei Hartz IV bedienen, sogar Ärzte, Rechtsanwälte und Unternehmer


Hans-Ulrich Jörges:
„Es gibt bei den so genannten Aufstockern, die ihr Gehalt, ihr Einkommen aufstocken auf das Mindestniveau von Hartz IV, inzwischen Ärzte, Rechtsanwälte, Unternehmer, die Bilanzen bei der Arbeitsagentur abliefern und behaupten, sie verdienen kein Geld.“

Hans-Ulrich Jörges: „Und das, was wir in Deutschland erleben, wenn so Systeme eröffnet werden, dass sich alle möglichen Leute bedienen und abgreifen, nach dem Motto „Ich bin doch nicht blöd“, das ist ja das neue deutsche Motto, das erleben wir hier massiv, dass die mitnehmen, was sie mitnehmen können.“

Woher kennt Jörges diese Ärzte und Anwälte? „Mir sind überhaupt keine Fälle von Ärzten bekannt, die angeblich auf Hartz-IV-Niveau aufstocken“, so Dr. Roland Stahl, Pressesprecher der kassenärztlichen Bundesvereinigung. Und auch die Anwaltskammer hat keine Informationen zum Thema. Groß genug, dass die Berufsverbände davon etwas mitbekommen haben, kann das Problem also nicht sein.

Wir haben Hans-Ulrich Jörges gefragt, wie viele Ärzte und Rechtsanwälte seines Wissens nach ALG II bekommen. Bis Redaktionsschluss haben wir keine Antwort erhalten.

4. Behauptung: Sogar die Wohlfahrtsverbände wollen das ALG II kürzen

Sabine Christiansen: „Nicht nur die Union (…), nein, sogar Sozialverbände fordern inzwischen: Es muss gekürzt werden.“

Markus Söder: „Aber die überwiegende Zahl der Sozialverbände, der Wohlfahrtsverbände, sagt, da findet massiver Missbrauch statt.“

Wer das hört, denkt sich: Wenn sogar die Wohlfahrtsverbände, die sich jeden Tag für die Armen einsetzten, für eine Kürzung der Hilfen aussprechen und massiven Missbrauch beobachten – dann muss da ja was dran sein. Nur: Söders Aussage ist schlicht falsch. „Keiner unserer Verbände hat massiven Missbrauch festgestellt“, so Werner Ballhausen, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) der freien Wohlfahrtspflege, in der alle Spitzenverbände organisiert sind.

Auch das Statement von Sabine Christiansen stimmt laut BAG nicht. Auf die Idee kam sie wohl, weil die Leiter der Wohlfahrtsverbände Diakonie, Arbeiterwohlfahrt und Rotes Kreuz gemeinsam mit Vertretern der Kommunen einen Brief an die Regierung geschickt und eine Kürzung gefordert hatten. Allerdings stand über dem Brief „Persönliche Erklärung“, und sowohl Diakonie als auch AWO hatten sich sofort davon distanziert (siehe auch Meldung auf Seite 7).

Richtig ist: Drei Wohlfahrtsverbände fordern eine Erhöhung des ALG-II-Regelsatzes: Caritas und Diakonie um 21 Prozent, der Paritätische Wohlfahrtsverband um 20 Prozent.

Wir haben Markus Söder und die Redaktion von Sabine Christiansen gefragt, welche Sozialverbände sie meinten. Bis Redaktionsschluss haben wir keine Antwort bekommen.

5. Behauptung: Die Hartz-IV-Kosten explodieren

Sabine Christiansen: „Die Sozialausgaben explodieren. Hartz IV kostet den Finanzminister – und damit uns Steuerzahler – erheblich mehr Geld als früher und als gedacht.“

Markus Söder: „Fakt ist aber auch, dass die Zahl derer, die es nutzen, und vor allem das Geld, das da gezahlt wird, enorm explodiert ist.“

Die Kosten explodieren nur, wenn die Hartz-IV-Ausgaben mit den Prognosen der alten Bundesregierung verglichen werden – und die waren von Anfang an zu niedrig angesetzt. Rechnet man die Kosten für Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe und Wohngeld für Erwerbsfähige zusammen, die Bund, Länder und Kommunen 2004 ausgegeben haben, kommt man auf etwa 38,6 Milliarden. Hartz IV hat 2005 etwa 44,4 Milliarden gekostet. Das ist dann schon keine Explosion mehr, sondern ein Anstieg um 15 Prozent.

Aber auch das ist noch zu hoch gegriffen, schließlich wären die Ausgaben 2005 auch mit dem alten System aufgrund der ungünstigen Entwicklung des Arbeitsmarktes weiter angestiegen. Das Arbeitsministerium schätzt, dass 2005 ohne Hartz IV etwa 43,5 Milliarden ausgegeben worden wären – also sind die Ausgaben um 2 Prozent gestiegen. Eine Explosion ist das nicht.

Wie haben Markus Söder und die Redaktion von Sabine Christiansen gefragt, an welchen Zahlen sie die Explosion der Hartz-IVKosten festmachen. Bis Redaktionsschluss haben wir keine Antwort bekommen.

Marc-André Rüssau