Generation Karstadt

Im Kaufhaus-Restaurant in der Hamburger Osterstraße sind die Stammgäste alt, das Leben jung

(aus Hinz&Kunzt 160/Juni 2006)

Brötchen, Lachs, Kaffee. Bruni sitzt seit halb zehn an ihrem Stammtisch. Mit zwei Fingern streift sie ein Haar von der Tischplatte. Wenn es heute Kohlrouladen gäbe, würde die 64-Jährige zum Mittag bleiben.

An beinahe jedem Tisch im Restaurant lehnen Gehstöcke und grüne Krücken. Die vergilbte Decke hängt tief, und auf jedem Tisch wächst künstliches Grün. Das sieht aus wie Schnittlauch und fühlt sich an wie die Strohhalme, die bei McDonald’s neben der SB-Theke liegen. Manchmal, wenn ein Gast das Restaurant betritt, schweben Joop- oder Chanel-Düfte durch die Luft; in der Parfümerie, zwischen Haupteingang und Restaurant-Schwelle, locken Test-Flakons. Bruni heißt eigentlich Brunhild. Unter den älteren auch Schläger-Lilie, weil sie vor einem halben Jahrhundert ihre größere Schwester mit Fäusten gegen die Jungs verteidigte. Zu dieser Zeit öffnete das Warenhaus samt Speiseraum das erste Mal seine Pforten. Bruni und nahezu alle anderen Besucher, die heute regelmäßig zur Frühstücks-, Mittags- oder Kaffee-Zeit einkehren, waren damals schon Karstadt-Gänger.

Die Dame mit den feinen Härchen auf der Oberlippe leert die Kaffeetasse, streichelt über ihre goldenen Ringe und lässt ihren Blick durch ihr zweites Zuhause wandern.

„Mika!“ Bruni winkt. Fünf Meter weiter, neben der Fleisch-Theke lacht eine etwa 20 Jahre jüngere Frau zurück. Auf dem Schild an ihrer Brust steht: Frau Vulovic. Sie ist die Küchenälteste und heute zuständig für das Salat-Buffet.

Mika kennt Bruni und die anderen Stammgäste seit Ewigkeiten. Als bei Bruni im Kampf um ihre Rente die Tränen flossen, nahm Mika sie in den Arm. Wenn der „Blinde“ kommt, serviert Mika das Essen am Tisch. Und wenn ein stämmiger Rentner bestellt, bekommt er von Mika drei Kartoffeln mehr aufs Tablett. Milowirka Vulovic spricht mit einem serbischen Akzent und auf der Nasenspitze trägt sie eine Brille mit breitem Rand. Ihre Ohrstecker haben Herzform.

Was den „Blinden“ angeht, ist das so eine Sache. „Kommt hier rein, lässt sich von vorn bis hinten bedienen und fährt danach mit’m Auto nach Haus“, Brunis Hände zucken. Vor Jahren hatte sie selbst eine Kneipe: Schlingel und Pappenheimer kommen ihr nicht unter. „Es gibt welche, die nehmen vorm Bezahlen zwei halbe Brötchen und verstecken die Leberwurst dazwischen, ja, ja!“ Die Grauhaarige ist in ihrem Element. „Aber ganz schlimm ist der Meckermann. Ein Karstadt-Mitarbeiter, wir nennen ihn nur so. Früher war er ganz freundlich, dann ist er zum Abteilungsleiter aufgestiegen und grüßt uns nicht mehr.“ Mit jedem „Meckermann“ strahlen Brunis Augen lebendiger. „Und der ,Raspodiehn‘. Den nennen wir auch nur so. Weil er so aussieht – mit dem wuscheligen Bart. Der traut sich nicht, mit uns zu sprechen. Aber wir sehen es ja, wenn er von einem Geschirr-Wagen zum nächsten schleicht.“ Der Rasputin schnorrt heimlich: Brötchen-, Kuchen-, Mittagsreste. Was andere wegstellen, landet zwischen seinen Zähnen. Wenn der elegant gekleidete Mann genug hat, fährt er mit dem Mofa nach Hause.

Die Mittagszeitzeit naht. Koteletts gehen heute besser als Schweinegeschnetzeltes. Und während Bruni „Rasputins“ Bart beschreibt, kommt drei Tische weiter der Club der lustigen Witwen zusammen: Irma (94), Käthe (85), Helga (85), Maria (85), Irmgard (85), Anneliese (80) und Gisela (75). Sie treffen sich jeden Montag und Donnerstag um zwölf. Bruni grüßen sie nicht, aber man kennt sich. Am liebsten schludern die sieben Uromas gemeinsam. Schludern ist, wenn sie die Dicke da drüben, die immer so enge Hosen trägt, „pommersche Landleberwurst“ nennen. Anneliese zeigt ihre neue Uhr. Lederarmband, braun, aber statt Ziffern ein Notruf knopf in der Mitte. „Ist ein Sender drin. Wenn ich drücke, wissen die Johanniter Bescheid.“

Käthe sitzt Anneliese gegenüber. Ihr Kopf braucht Zeit, um beim Schludern hinterherzukommen. Vor ein paar Wochen brach sie nach dem Hackbraten zusammen. „Alle Augenblick fällt hier mal einer um“, sagt der Club. Den Tod grenzen die Damen nicht aus. Aber zu viel wollen sie nicht über Zucker-, Herz- oder Alzheimer-Leiden reden.

Gisela ist das Kücken der Runde. Nicht nur weil sie sichtbar die Jüngste ist, sondern weil sie vor kurzem noch am Nebentisch saß. Sie rückte einen Tisch weiter, als all ihre alten Freundinnen verstorben waren. Heute sitzt die Brünette an der Stirnseite der Runde und guckt ab und an in Brunis Richtung.

Davor, an der Theke, wächst die Schlange. Eingereiht warten auch vier junge Mädels. Bruni winkt ab. „Das sind Angestellte, die essen im Kasino.“ Die erste Hüfthosenträgerin mit straffen Brüsten zahlt. Danach durchquert sie die Tür mit der Aufschrift „Restaurantleitung“. „Die haben da einen Personalraum.“ Und wieso Kasino? „Weil wir nicht rein dürfen – und es klingt vornehmer.“ Mit ihren Fingerspitzen drückt Bruni die letzten Brötchenkrümel vom Teller. Wenn sie schludert, spricht sie im Wir. Hier lästert keiner allein. Brunis Stammtisch ist so eine Art Frühstücksclub. Heute sind ihre Freundinnen schon gegangen. Ihr fällt es schwer, ein Ende zu finden. Da war noch die Geschichte vom 70. einer Bekannten. Der Gaststätten-Leiter spendierte Piccolos, trällerte der Dame ein Ständchen, und alle sangen mit. Oder die von der Spielsüchtigen. Oder die vom einstigen Schaufenster-Dekorateur. Der war vom anderen Ufer. Sehr nett. Von den Kollegen nicht so gut behandelt, hat er sich vom Hochhaus gestürzt.

In ihrem Club hat sie das hundertmal beschnackt. Jetzt muss sie los, Wäsche waschen, in die Wohnung „meiner großen Socke“. Das ist ihr ältester Sohn (40). Morgen wäscht sie für ihre „kleine Socke“ (37), Schlüpfer, Socken, Satin-Bettzeug.

Steffen Dobbert

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