In Hamburg Geld machen – davon träumen viele Wanderarbeiter. Oft endet die Reise in der Obdachlosigkeit. Die Polen haben dabei noch Glück im Unglück: Sie dürfen hier ohne Einschränkung arbeiten. Und Projekte wie der Verein Barka helfen in Polen bei der Rückkehr. Emilia Smechowski (Text) und Mauricio Bustamante (Fotos) haben 2012 Heimkehrer besucht.
(aus Hinz&Kunzt 249/November 2013)
Das passt nicht zu Pawel, einfach so wegzubleiben“, sagt Oksana Bamburska, Pawels Frau. „Wir hatten zweimal pro Woche telefoniert.“ Plötzlich hörte sie nichts mehr. Als er an Weihnachten nicht wie versprochen zu Besuch kam, ist sie fast verrückt geworden vor Sorge. Ein paar Wochen später hat sie ihn wieder. Sie hat sich auf die Suche gemacht, als er auf den Straßen Hamburgs verschollen war. Und hat ihn zurückgeholt. Nach Hause, in die gemeinsame Einzimmerwohnung in Szczecin (Stettin).
Er sitzt auf dem Sofa, das sie abends zum Schlafen ausklappen. Seit fünf Tagen sitzt er so da, seit er aus Hamburg zurückgekommen ist. Der Fernseher läuft, seine Augen sind leer, es gibt heißen schwarzen Tee. Pawel Szostak ist 35 Jahre alt, er sagt: „Jetzt bleib ich zu Hause. Mit Hamburg, überhaupt mit dem Ausland, hab ich abgeschlossen.“
Dabei hat er vergleichsweise wenig Zeit auf der Straße verbracht. Nicht mal zwei Monate. Es war der 28. September, als Pawel Szostak nach Hamburg kam. Mit vier anderen Polen sollte er ein Einfamilienhaus am Rande der Stadt renovieren, drei Monate lang. Nichts Neues, das letzte Mal war er für drei Monate auf Mallorca gewesen, die Schwarzarbeit im Ausland rentierte sich mehr als der mickrige Lohn zu Hause auf dem Bau. Der Mann, der sie beschäftigte, hieß Bogdan, sagt Szostak. Sie arbeiteten 13 Stunden am Tag, am Ende winkten 4000 Euro. Doch daraus wurde nichts. Als die Polizei eines Morgens einen von ihnen besoffen neben der Baustelle fand, bekam Bogdan Panik und verscheuchte die anderen.
„Ich habe Bogdan immer wieder angerufen, ihm auf die Mailbox gesprochen: Wo bleibt das Geld?“ Bogdan rief nicht zurück. Seine Frau ist Polizistin und Szostak vermutet, die Sache sei ihm zu heiß geworden. Als Szostak Mitte November auf der Straße noch die Tasche geklaut wurde, mit Klamotten, Handy und Papieren, war er plötzlich ganz unten – und meldete sich aus Scham auch nicht mehr bei seiner Frau Oksana in Szczecin.
Oksana treibt ihren vermissten Mann in Hamburg auf
Die ging am 26. Dezember zur Polizei. Am 9. Januar bekam sie einen Anruf. Pawel Szostak sei in der Tagesaufenthaltsstätte Herz As gesehen worden. Oksana Bamburska fand die Internet-Adresse, rief dort an, versuchte sich an ihren paar Brocken Deutsch. Man gab ihr die Handynummer von Stanislaw Szczerba, einem Streetworker, der im Auftrag des polnischen Vereins Barka auf Hamburgs Straßen unterwegs ist, um osteuropäische Obdachlose anzusprechen. „Innerhalb von zwei Tagen finde ich Ihren Mann, das verspreche ich“, sagte er. Schon am nächsten Morgen saß Pawel im Zug nach Szczecin. Szczerba hatte ihm Mineralwasser und belegte Brote mitgegeben. Ein paar Tage braucht er noch, sagt er. Zum Ausruhen. Dann will er sich hier in Szczecin eine Arbeit suchen, irgendwo auf dem Bau. „Es ist mir egal, dass ich dann weniger verdiene. Hier lebt meine Familie. Das ist wichtiger.“
Nicht alle, die wie Pawel Szostak im Ausland stranden, haben eine Frau, die um sie und ihre Rückkehr kämpft. Wer niemanden hat, dem hilft, wenn er Glück hat, Barka in einem Dorf namens Chudobczyce, 60 Kilometer von Poznan (Posen) entfernt. Hier nehmen 70 Männer die Herausforderung vermeintlich banaler Dinge an: morgens aufstehen, einer einfachen Arbeit nachgehen – und bloß nicht wieder zur Flasche greifen.
Sie leben gemeinsam in einem Plattenbau, etwas abseits von den wenigen Häusern von Chudobczyce. Die Männer haben auf der Straße gelebt, jahrelang, in Hamburg, Dublin, London, Wrocław (Breslau), Gdansk (Danzig) oder Warszawa (Warschau), und sie sind Alkoholiker. Jetzt teilen sie sich zu mehreren ein kleines Zimmer, sie essen gemeinsam im Keller. Umgeben von: nichts. Getreidefelder umschließen das 460 Hektar große Areal, das sich „Integrationszentrum Barka“ nennt. Das Besondere: Keiner hier wird integriert, die Bewohner integrieren sich selbst. Raus aus dem Obdachlosen- und Alkoholikerleben, rein in einen strukturierten Alltag und eine Gemeinschaft.
„Die Menschen lernen hier Bescheidenheit.“
Mariusz Pawlik ist 30 Jahre alt, und wie die meisten hier sieht er gut zehn Jahre älter aus. Seit einem Jahr wohnt er in Chudobczyce, seit er gemerkt hat, dass er keine Kraft mehr hat für die Straßen von Wrocław. Normalerweise ist Pawlik hier für die Felder zuständig, er fährt mit dem Traktor raus und bestellt sie. Jetzt liegt Schnee, es sind vier Grad unter null, deshalb füttert er die Schweine.
Arbeit und ein geregelter Alltag sind die Prinzipien der Leute von Barka, die sich zum Ziel gesetzt haben, Obdachlose wieder in die Gesellschaft zu integrieren. „Das ist nicht so einfach“, sagt deren Leiter Tomasz Flinik. „Wer Jahre oder Jahrzehnte ganz unten war, kann nicht innerhalb von Wochen wieder Struktur in sein Leben bringen.“ Bei den meisten dauere es Monate bis Jahre, bis es für sie normal geworden sei, morgens aufzustehen. Wer einmal alles wollte und mit nichts zurückkam, hat es eben besonders schwer. „Die Menschen lernen hier Bescheidenheit. Und dass eine Gemeinschaft, einfache Arbeit und miteinander essen mehr bedeuten kann als die große weite Welt, die ihnen so oft in den Arsch getreten hat.“
Zu tun gibt es genug. Feldarbeit, Gemüseanbau, Ställe ausmisten, Tiere füttern. Auf dem Barka-Gelände gibt es 600 Lämmer und 60 Schweine, die lebend verkauft werden. Gemüse wird ohne Chemie angebaut. Die 200 Ziegen im Stall haben es besonders gut: Klassik läuft aus den Boxen. Chopin. Walzer für Klavier. Geplant ist sogar eine Nudelfabrik. „Unser Ziel ist es, uns selbst versorgen zu können“, sagt Flinik. „Es ist schön zu sehen, wie den Menschen arbeiten wieder Spaß macht. Unser Mann für die Ziegen würde wahrscheinlich vor Sehnsucht sterben, würde man sie ihm wieder wegnehmen.“
Regelmäßig kommt eine Psychologin ins Zentrum, die die Bewohner betreut, ein Mal wöchentlich geht es mit dem Bus nach Poznan, zu den Anonymen Alkoholikern. Doch Therapie sei den Bewohnern vor allem die Gemeinschaft, jeder helfe dem anderen, keiner müsse sich allein durchschlagen. Auch Flinik war jahrelang obdachlos. Es ist wohl das einzige Dorf in Polen, in dem die Prämisse gilt: kein Alkohol. „Sogar an Silvester stoßen wir nur mit Kindersekt an“, so Flinik. „Letztes Jahr gab es noch nicht mal mehr den.“ Wer doch beim Trinken erwischt wird, hat zwei Möglichkeiten: Sofort in die nächstgelegene Klinik zum zweiwöchigen Entzug. Oder gehen. Mariusz Pawlik wurde in den ersten Wochen ein Mal schwach: Zusammen mit einem Kumpel kippte er drei Flaschen Wodka. Seitdem hofft er, dass ihn das Verlangen nicht wieder einholt.
Die Bewohner kommen aus ganz Polen hierher und aus Großstädten aus dem Ausland.
Das Zentrum erhält kein Geld vom Staat, es finanziert sich über Spenden – und Abgaben, die die Bewohner zahlen. Die Sozialrente, die dem deutschen Arbeitslosengeld entspricht, beträgt in Polen umgerechnet etwa 110 Euro. Davon gehen etwa 50 Euro an Barka für Unterkunft, Verpflegung und therapeutische Leistungen. Der Rest ist Taschengeld. Die Bewohner kommen aus ganz Polen hierher und aus Großstädten aus dem Ausland. Die, die ihr Land verlassen haben, sind ausgezogen, um Arbeit zu finden, Geld zu verdienen, etwas zu werden. Sie sind zurückgekommen, ohne Arbeit, ohne Geld, ohne Hoffnung. So wie Andrzej Warzynski. Er ist aus Hamburg gekommen, wo laut Barka rund 600 osteuropäische Obdachlose leben, etwa 60 Prozent von ihnen Polen. Wie Warzynski sprechen sie zumeist kein Deutsch, sind nicht krankenversichert und haben selten Anspruch auf Sozialleistungen.
Es braucht eine Weile, bis man sich an das Kauderwelsch gewöhnt, das Warzynski von sich gibt, bis man mehr versteht als ein Röcheln. Seine tiefe Stimme artikuliert nicht mehr richtig, der Wulst an seinem rechten Lymphknoten ist so groß wie eine gut gewachsene Mango. Ein Tumor, bösartig, nicht operabel. Die Ärzte geben ihm höchstens ein Jahr. Entdeckt wurde er vor vier Monaten, im September, als Warzynski nach Polen zurückkam. Eine Leberzirrhose hatte ihm schon der Alkohol beschert, und dann hatte er plötzlich Schmerzen hinterm rechten Ohr. Lymphdrüsenkrebs. Mit der Diagnose fing der Tumor sogleich an zu wachsen.
Warzynski mag gar nicht daran denken, was er als Krebspatient in Hamburg getan hätte – ohne Krankenversicherung. Als er nach Chudobczyce kam, besorgte ihm der Leiter Flinik innerhalb von zwei Tagen die nötige Versicherung, und Warzynski konnte sofort zum Arzt. Jetzt ist er so krank, dass er nicht arbeiten kann. Auch er sieht älter aus als seine 57 Jahre. Einmal wurde er von der Polizei mit 6,9 Promille im Blut aufgegriffen, sagt er. Man weiß nicht, ob man ihm das glauben kann. Er sitzt mit seinen zwei Zimmergenossen vor dem Fernseher. Es ist Sonntag. Ruhetag. Es gibt Skispringen.
Die Rückkehr ist für viele die letzte Chance.
Vor einem halben Jahr noch lief Warzynski die Reeperbahn entlang. Zehn Jahre war er in Hamburg, die meiste Zeit davon auf der Straße. Anfangs arbeitete er noch schwarz, als Maler tapezierte er Wände, eine Ausbildung hat er nicht. Irgendwann war der Job vorbei, ein neuer nicht in Sicht, und Warzynski baute sich unter einer Brücke ein Zuhause: aus zwei Pappkartons und ein paar Decken vom Sperrmüll. Später schlug er ein Zelt in Blankenese auf und fand wieder einen Job: als Mädchen für alles in einem Musikclub. Fegen, Tische aufstellen, für 50 Euro am Tag, schwarz natürlich. Eine Wohnung wollte er nicht, der Job war zu unsicher. Er endete als Dosen- und Flaschensammler. Dann hat er Barka-Streetworker Stanislaw Szczerba getroffen. Das ist ein Jahr her.
Szczerba hat Warzynski zur Rückkehr in sein Heimatland bewegt. Die Fahrt dorthin wurde bezahlt. Gefällt es ihm jetzt hier in Chudobczyce? „Ach, na ja, Hamburg ist Hamburg. Ich liebe diese Stadt einfach. Aber gerade bin ich eh nur aktiv dabei zu sterben. Lediglich mein Humor bewahrt mich vor schlechter Laune.“ Seine Augen lachen permanent. Wenn er laut auflacht, bekommt er Hustenanfälle. Dann wird Warzynski still.
Aber ist es denn vertretbar, diese Menschen, die voll Hoffnung und freiwillig in ein fremdes Land gereist sind, einfach in den Bus nach Hause zu setzen? Alle würden freiwillig fahren, meint Warzynski. Es sei nur manchmal nicht einfach, sich einzugestehen, dass man gescheitert ist. „Vor allem polnische Männer haben da Probleme, finde ich. Deutsche weniger“, so Warzynski. Und: „Es ist jedenfalls für viele die letzte Chance.“
P.S.: Andrzej Warzynski ist wenige Monate nach dem Besuch an den Folgen seiner Erkrankung gestorben. Das polnische Sozialsystem: Ein Anspruch auf Arbeitslosengeld besteht nur in den ersten sechs Monaten. Sozialleistungen werden gewährt, wenn das Einkommen das „Existenzminimum“ von monatlich 477 Zloty (115 Euro) nicht übersteigt. Dieser Betrag liegt weit unter dem Netto-Durchschnittseinkommen von umgerechnet etwa 500 Euro. Einen festen Regelsatz für die Sozialleistungen gibt es nicht. Sie setzen sich aus unterschiedlichen Zuwendungen zusammen. Eine Mietkosten-Übernahme ist nicht selbstverständlich, und die Leistungen werden sehr kurzfristig bewilligt. Ein Vorteil: Ab Antragstellung ist man in Polen krankenversichert.
Die Ausstellung Wanderarbeiter. Fotografien einer neuen Arbeiterklasse läuft vom 15.11.13 bis 2.3.14 im Museum der Arbeit, Wiesendamm 3, Mo, 13–21 Uhr, Di–Sa, 10–17 Uhr, So, 10–18 Uhr, 6/4 Euro. Neun Fotografen zeigen aktuelle und historische Arbeiten über Wanderarbeit. Auch Hinz&Kunzt-Fotograf Mauricio Bustamante ist dabei mit einem
multimedialen Beitrag über rumänische und bulgarische Arbeiter in Hamburg.