Die Zwischenbilanz der Arbeitsmarktreform fällt verheerend aus. Ein Überblick
(aus Hinz&Kunzt 155/Januar 2006)
Der Behörde fehlt das versprochene Personal. Ursprünglich sollte ein ARGE-Berater für 150 Arbeitslose zuständig sein. Bei unter 25-Jährigen sollte der Betreuungsschlüssel bei 1 zu 75 liegen. Tatsächlich muss sich ein Mitarbeiter um 300 bis 400 Fälle gleichzeitig kümmern.
Mindestens 500 zusätzliche Berater brauche die Hamburger ARGE, um vernünftig arbeiten zu können, so Sieglinde Frieß von der Gewerkschaft verdi. Derzeit kümmern sich die 1400 Mitarbeiter vor allem darum, dass 190.000 Arbeitslosengeld(ALG)-II-Empfänger ihre Hilfe pünktlich ausbezahlt bekommen. Immerhin: Die Einstellung von 100 Mitarbeitern, so die ARGE, ist für Januar geplant.
Die Software A2LL funktioniert auch nach einem Jahr nicht richtig. Die Folge: Vieles müssen die ARGE-Mitarbeiter umständlich per Hand in den Computer eingeben. Das kostet Zeit, die für Beratung fehlt. Experten arbeiten seit Monaten daran, die Mängel zu beheben. Erfolglos. Manche Insider behaupten, A2LL wäre nicht zu retten, eine neue Software müsse her. Wie lange das so weitergehen soll, weiß niemand. Eine Sprecherin der verantwortlichen Bundesagentur für Arbeit (BA): „Eine zeitliche Perspektive gibt es nicht.“
Viele ARGE-Mitarbeiter sind frustriert. „Die Arbeitsbedingungen sind katastrophal“, so Gewerkschafterin Frieß. Nicht nur Überlastung und die miserable Software machen den Mitarbeitern zu schaffen, sie klagen auch über Raumnot und fehlende Schulungen.
Weiteres Problem: Das Personal findet nicht zueinander. Während die Angestellten der Arbeitsagentur aus hierarchischen Strukturen kommen, so die Gewerkschafterin, sind es die ehemaligen Sozialamts-Mitarbeiter „gewohnt, sehr eigenständig zu arbeiten“. Zudem haben 350 Mitarbeiter früher für Telekom oder Post gearbeitet und seien zum Teil „unzureichend qualifiziert“.
Die Betreuung ist schlechter denn je. Rund die Hälfte der 230 Millionen Euro, die Bund und Land 2005 für die Qualifizierung von ALG-II-Empfängern in Hamburg bereitstellten, hat die ARGE nicht ausgegeben. Viele Hilfe-Empfänger kennen ihren Berater nach einem Jahr nicht persönlich. Auch telefonisch, klagen Betroffene und Sozialarbeiter, sind die Behörden-Mitarbeiter nicht zu erreichen.
Das sollte alles anders sein: „Fallmanager“ und „persönliche Ansprechpartner“ sollten sich, so das Versprechen, „intensiv“ um die Arbeitslosen kümmern, sie „individuell betreuen“ und „passgenau vermitteln“. Das ist bis heute Theorie. Tatsächlich verschicken die
ARGE-Mitarbeiter vor allem Briefe, in denen sie ihre „Kunden“ offenbar wahllos auffordern, einen Ein-Euro-Job anzunehmen oder an Trainingsmaßnahmen teilzunehmen.
Eine Kontrolle der Behörde findet nicht statt. Wie erfolgreich die ARGE Arbeitslose betreut, ist kaum zu beurteilen. Anfragen von Bürgerschaft und Medien werden zumeist mit dem Hinweis auf fehlende Daten beantwortet. Zum Beispiel weiß angeblich niemand, wie viele Ein-Euro-Jobber nach Ablauf der Maßnahme einen Job finden beziehungsweise in die Arbeitslosigkeit zurückkehren müssen. Erkenntnisse, so die ARGE, lägen frühestens im Frühjahr vor.
Als die GAL kürzlich erfahren wollte, wie vielen ALG-II-Empfängern bislang die Hilfe gekürzt oder gestrichen wurde, etwa wegen „mangelnder Mitwirkung“, erklärte der Senat nur knapp: „Gründe für Sanktionen und Minderausgaben auf Grund von Sanktionen werden statistisch nicht erfasst.“ Auf Hinz&Kunzt-Nachfrage teilte ARGE-Sprecher Uwe Ihnen mit, rund 1000 ALG-II-Empfänger monatlich würden mit Sanktionen belegt.
Verantwortung für das Desaster will niemand tragen. Die Stadt sagt, die Bundesagentur für Arbeit sei Schuld. Sie müsse für eine funktionierende Software sorgen und weniger bürokratische Vorgaben machen. Wirtschaftssenator Gunnar Uldall (CDU) hält die ARGE ohnehin für eine Fehlkonstruktion, solange Stadt und Arbeitsagentur sich gleichberechtigt abstimmen müssen als Träger der Behörde.
Das soll sich künftig ändern. Die Stadt will die Hauptverantwortung übernehmen, der Arbeitsagentur ist das recht. Noch im Januar soll eine entsprechende Vorlage den Senat passieren. Was dann besser wird? „Wir erhoffen uns mehr Effizienz“, so Christian Saadhoff, Sprecher der Behörde für Wirtschaft und Arbeit (BWA).
Die vermeintlichen Sozialschmarotzer müssen als Sündenbock dienen. Kurz vor seinem Abgang setzte Ex-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD), einer der Hauptverantwortlichen für die Umsetzung der Arbeitsmarktreform, eine Missbrauchsdebatte in Gang. Viele ALG-II-Empfänger, ließ Clement in einer Broschüre verbreiten, würden zu Unrecht Leistungen beziehen. Deshalb sei Hartz IV teurer als vorgesehen. Seitdem redet niemand mehr über die Mängel der Reform.
Dabei ist der Umstand, dass die Kosten höher ausfallen als geplant, schlichtweg darauf zurückzuführen, dass Clement und Co unseriös kalkuliert haben: Lediglich 14,6 Milliarden Euro hatten sie als Jahresbedarf für ALG-II-Zahlungen vorgesehen, obwohl der Bund im Jahr zuvor fast das Doppelte, nämlich 27,6 Milliarden Euro, für Arbeitslosen- und Sozialhilfe ausgegeben hatte. Tatsächlich liegen die Kosten nun bei 25,6 Milliarden Euro – zwei Milliarden Euro weniger als im Jahr zuvor.
Auch in Hamburg finden sich keine Belege für Clements Diffamierungen: Der Senat teilte auf Bürgerschaftsanfragen hin mit, von Juli bis September 2005 seien bei Hausbesuchen durch ARGE-Mitarbeiter „22 Fälle von Leistungsmissbrauch festgestellt“ worden.
Ulrich Jonas
Kommentar: Hilf dir selbst!
Man kann Einiges vorbringen gegen Peter Hartz, den geschassten VW-Vorstand und Ex-Vordenker. Aber die jüngste „Arbeitsmarktreform“, Hartz IV genannt, hat er so sicher nicht gewollt. Die Idee war gut: Warum soll es mit Arbeits- und Sozialamt zwei Behörden geben, die sich um arbeitslose Hilfebedürftige kümmern? Warum zwei Systeme, die mehr gegen- als miteinander arbeiten?
Nun gibt es eine Behörde, und doch scheint alles schlimmer. Dem neuen Mammut-Amt fehlt es an allem: an Personal, an Technik, an Fortbildung, an Kontrolle und an guter Führung. Der Druck, den die ARGE ausübt, wächst derweil. „Fordern und fördern“ ist das Label, unter dem alles steht. Tatsächlich wird gefordert. Das wäre in Ordnung, wenn es Angebote gäbe für die Menschen. Doch das Beste, was die Behörde anbietet, ist ein Ein-Euro-Job ohne Perspektive. Im besseren Fall bedeutet der zehn Monate Beschäftigung und ein paar Euro mehr, im schlechteren Schikane und Verschwendung von Steuergeldern.
Dabei lässt das Gesetz durchaus die Möglichkeit, Arbeitslose mit Vertrag und auch länger zu beschäftigen. Doch ist das politisch nicht gewollt, zumindest nicht in Hamburg. Dabei wäre es klug: Die Menschen behielten ein Stück mehr Würde. Ihre Chancen, einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden, wären sicher nicht schlechter. Und es wäre wohl nicht mal teurer.
Hier enthüllt sich die Absicht der vermeintlichen Reformer: Es geht ihnen nicht um die Arbeitslosen. Es geht ihnen auch nicht nur ums Geld. Vor allem geht es ihnen um einen Bewusstseins-Wandel in Zeiten nicht endender Massenarbeitslosigkeit und leerer Kassen. Die versteckte Botschaft heißt: Wer keinen Job findet, ist selber schuld. Und soll sich gefälligst selber helfen.