Ein Polizist in Zivil will einen Betrunkenen vor zwei Halbstarken schützen und wird lebensgefährlich verletzt. Und viele schauen einfach weg.
(aus Hinz&Kunzt 155/Januar 2006)
Das Verbrechen machte Schlagzeilen: Der Bundespolizist Timo Mesecke lag am Morgen des 5. Mai schwer verletzt auf dem Bahnsteig der S-Bahn-Station Reeperbahn. Acht Messerstiche kosteten ihn fast das Leben. Mesecke hatte zwei junge Männer daran hindern wollen, einen Betrunkenen zu drangsalieren. Hinz&Kunzt zeichnete ihn dafür mit dem „Gut,Mensch!“-Preis aus. Der mutmaßliche Messerstecher will sich an die Tat nicht erinnern können. Er ist wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung angeklagt, sein Freund wegen gefährlicher Körperverletzung.
Nach Darstellung der Angeklagten beginnt die Geschichte mit einem Versehen. Ayhan G., ein 21-Jähriger mit jungenhaftem Gesicht, lässt seine Aussage vor dem Landgericht von der Verteidigerin verlesen. Sein Freund, der 22-jährige Özker T., habe sich neben einen Betrunkenen gesetzt, da habe der „laut gefurzt“. „Ey, Kollege, was soll das denn?“, habe er gefragt. Der Betrunkene habe gekichert. Da habe er den Mann „aus Versehen getreten“. Er habe Özker T. treffen wollen. Als „eigentlich alles vorbei“ gewesen sei, habe sich Timo Mesecke „eingemischt“.
Der 25-jährige Bundespolizist Timo Mesecke hat gefeiert. Seine Freundin hat eine Prüfung bestanden. Mit Freunden sind sie über den Kiez gezogen. Gegen viertel vor fünf gehen sie zur S-Bahn-Station Reeperbahn hinunter. Mesecke setzt sich auf einen Sitz, die Freundin stellt sich vor ihn. Im Rücken des Polizisten außer Dienst sitzt der Volltrunkene. Offenbar schläft der bis heute unbekannte Mann.
Entschuldigt sich Özker T. für den Tritt des Freundes, wie er aussagt? Ist es ein Tritt, wie die einen sagen, oder sind es mehrere, wie andere behaupten? Stöhnt der Betrunkene, sackt er zur Seite? Und sagt Meseckes Freundin: „Was soll das? Was willst du Dreikäsehoch?“, wie Özker T. erklärt? Oder bezeichnet sie die Angeklagten als „laufende Meter“, wie sie sich vor Gericht erinnert?
Timo Mesecke, der 1,90 Meter große, durchtrainierte Mann, steht auf. Er stellt sich zwischen den Betrunkenen und die Halbstarken. Die reichen ihm kaum über die Brust mit ihren gut 20 Zentimetern weniger. Dass er sagt: „Das ist ein Mensch wie du und ich!“, das können einige bezeugen vor Gericht. Aber was sagt er noch, und in welchem Ton? „Waren Sie aggressiv?“, fragt der Richter. „Ich habe bestimmt gesagt: ,Was soll das?‘“ – „Was meinen Sie, was haben Sie vermittelt: Will er streiten, will er schlichten?“ – „Ich wollte aufklären: Gibt es ein Problem?“
Dass die Angeklagten nur den berüchtigten Funken brauchen, wird schnell deutlich. Mesecke, meint Özker T., habe klarmachen wollen, „dass wir Halbstarke sind und er uns den Arsch aufreißen will“. Er sagt: „Logisch, dass man sich so was nicht gefallen lässt.“ Viel Alkohol sei zuvor geflossen. „Ich war ziemlich besoffen“, erklärt Ayhan G. Auch Timo Mesecke hat getrunken, „zwei, drei Bier am frühen Abend“.
Es kommt zum Wortgefecht und zu Rangeleien. Ayhan G. behauptet, der Polizist habe ihn am Hals gepackt und zugedrückt, so dass er keine Luft bekommen habe. Mesecke meint, er habe ihn mit ausgestrecktem Arm weggeschubst, aber „in keinster Weise gewürgt“. Viele Zeugen bestätigen, dass er sagt: „Ich bin Polizist! Mich geht das sehr wohl was an!“ Die Angeklagten wollen das nicht gehört haben. Dann rangeln die drei, und die Angeklagten schlagen wohl auch. „Wie Hyänen“, so ein Zeuge, hätten sie schließlich am scheinbar übermächtigen Gegner gehangen.
Das tragische Ende wird in Variationen erzählt. Hat Mesecke unmittelbar vor der Messerattacke Özker T. im Schwitzkasten, wie der und manch Zeuge behaupten? Oder drücken die beiden ihren Gegner gegen die eingefahrene S-Bahn und halten seine Arme fest, wie das Opfer und andere Zeugen aussagen? Unbestreitbar ist: Einer zieht plötzlich ein Messer und sticht in schneller Folge acht Mal zu. Vieles deutet darauf hin, dass bei Ayhan G. die Sicherungen durchgebrannt sind. Er will sich nicht erinnern können. „Ich dachte, ich hätte ihn mit den Fäusten geschlagen“, verliest seine Verteidigerin. Erst als er weggelaufen sei, habe er das blutverschmierte Messer in seiner Hand wahrgenommen.
Zweimal weint der Hauptangeklagte.Sonst schaut der drahtige junge Mann mit gesenktem Kopf ins Leere. Özker T. verfolgt die Verhandlung mit regloser Miene. Die beiden kennen sich seit Kindertagen, machten gemeinsam ihre Lehre im Supermarkt von Özkers Vater. Dass sie sich vor Gericht verantworten müssen, ist einem Kumpel der Angeklagten zu verdanken. Dennis, ein pummeliger 19-Jähriger, der sich an jenem Morgen abseits hält, wird spät vom schlechten Gewissen überwältigt. Er geht zur Polizei und packt aus. So wird Ayhan G. erst Wochen nach der Tat festgenommen. Zuvor, behauptet Dennis, habe dieser ihn massiv unter Druck gesetzt. „Wer was sagt, den mach ich fertig!“, habe er gedroht.
Der beste Freund von Ayhan G., Oliver, leidet vor Gericht an massivem Gedächtnisverlust. Zu ihm sind die Angeklagten an jenem Morgen gefahren, in seiner Wohnung haben sie sich später wiedergetroffen. Der 20 Jährige soll bei der Polizei berichtet haben, was Ayhan G. erzählt hat: dass die Angeklagten „Figuren ihrer Schlagtechnik“ vorgeführt und mit dem Handy fotografiert hätten, nicht das erste Mal offenbar. „Das sieht ganz schlimm aus, aber in Wirklichkeit war das gar nicht schlimm.“
Timo Mesecke hat viel Glück im Unglück. Einer der Stiche traf seine Leber, nur durch eine Notoperation konnten die Ärzte sein Leben retten. Er kann heute wieder seinen Beruf ausüben. Geblieben, so Mesecke, seien „jede Menge Narben und zum Teil Schmerzen“. Außer ihm greift niemand ein, als Ayhan G. den Betrunkenen tritt. Auch später reagieren die Umstehenden nicht. Bis zu 200 Menschen warten an diesem Morgen auf die erste S-Bahn. Bestimmt 20 stehen nur wenige Meter entfernt.
Ein gutes Dutzend Zeugen hat sich bei der Polizei gemeldet. Ein älterer Mann soll nach dem Tritt gesagt haben: „Das geht doch nicht!“ Einige sollen die Köpfe geschüttelt haben. Als Timo Mesecke mit den Angeklagten kämpft, unterhält sich ein Zeuge mit dessen Freundin. Ein anderer sagt, die Situation „schien eigentlich nicht bedrohlich“.
Das Urteil stand bei Redaktionsschluss noch aus.