Odyssee einer Familie

Wochenlang wird eine Mutter mit zwei Kindern ohne Geld durch Hamburgs Notunterkünfte geschickt

(aus Hinz&Kunzt 153/November 2005)

Sonnabend, 24. September: Birte Martins Pereira (39) kommt mit ihren beiden Kindern am Hamburger Hauptbahnhof an. Ihr Freund Andreas Eichelberg erwartet sie. Er ist schon seit mehreren Tagen in Hamburg. Beide sind vor Birtes Ex-Mann und ihrer Familie in Lübeck geflohen, von denen sie sich bedroht fühlen.

Weil am Wochenende kein Amt geöffnet hat, übernimmt die Bahnhofsmission die Kosten für zwei Übernachtungen von Birte und ihren Kindern (12, 9) im Haus Jona, einer Notunterkunft beim Bahnhof. Andreas lebt hier bereits. Birte bezieht mit ihren Kindern das „Fami- lienzimmer“ mit drei Betten, 18,20 Euro kostet das pro Person und Nacht. Das Haus Jona, das dieser Tage 60 Jahre alt wird, wirkt eher wie eine gut geführte Jugendherberge, nicht wie eine Notunterkunft.

Montag, 26. September: Birte, die ihre Arbeitsstelle in Lübeck gekündigt hat, wendet sich an die ARGE im Bezirk Mitte. Sie möchte weiter im Haus Jona bleiben, das Amt soll die Kosten übernehmen. Aber das Jugendamt empfiehlt ihr, in ein Frauenhaus zu gehen.


Dienstag, 27. September:
Mutter und Kinder haben eine Nacht im Frauenhaus verbracht. Doch die Leiterin erklärt Birte, sie sei hier nicht richtig. Also geht sie für die nächste Nacht wieder ins Haus Jona, die Kosten übernimmt einmalig die ARGE Mitte.

Mittwoch, 28. September: Birte kommt in eine Unterkunft von pflegen&wohnen (p&w) in der Halskestraße in Billstedt. Die ist zwar unschlagbar billig, rund 100 Euro pro Person und Monat. Aber die Zustände sind hart: Im Waschbecken findet Birte tote Kakerlaken und im Schrank die Plastikkappe einer Spritze. Außerdem fühlt sie sich nicht sicher. Nachts habe sie öfters eine Frau schreien gehört. p&w-Sprecher Winfried Sdun ist verwundert, dass die Familie dort einquartiert wurde. „Das ist eigentlich eine Unterkunft für Zuwanderer.“ Dass in der Halskestraße Probleme mit Ungeziefer oder Drogen auftreten, könne er nicht ausschließen. Es habe auch Polizeieinsätze gegeben.

Donnerstag, 29. September: Birte meldet sich „ohne festen Wohnsitz“, ab jetzt ist die ARGE Billstedt für sie zuständig. Hier beantragt sie Arbeitslosengeld II. Außerdem will sie möglichst bald weg aus der Halskestraße, am liebsten zurück ins Haus Jona. Die ARGE in Billstedt weigert sich allerdings. Das Haus Jona sei zu teuer. Außerdem ist plötzlich ihr Antrag auf Arbeitslosengeld II verschwunden. Er wird erst neun Tage später wieder auftauchen.

Montag, 3. Oktober: Birte und ihre Kinder haben zum letzten Mal in der Halskestraße übernachtet. Als ein Bekannter die Unterbringung sieht, nimmt er die drei bei sich in seiner Mini-Wohnung auf.

Donnerstag, 13. Oktober: Bei einem Besuch der ARGE eskaliert die Situation. Der Sachbearbeiter stößt die Frau mit den Worten „Für Sie habe ich jetzt keine Zeit“ aus der Tür. Wie Standortleiter Dassow später sagt, kann sich niemand an den Vorgang erinnern. „Bei den engen Büros hier lässt es sich manchmal nicht vermeiden, beim Vorbeigehen mit dem Bürger in Kontakt zu treten“, sagt er und verspricht, den Vorgang zu klären.

Donnerstag, 20. Oktober: Aufgrund unserer Recherche empfiehlt die ARGE-Zentrale der ARGE Billstedt, die Kosten für das Haus Jona zu übernehmen.

Freitag, 21. Oktober: Birte ist wieder in der ARGE Billstedt, aber Standortleiter Dassow weigert sich nun doch, die Unterbringung im Haus Jona zu finanzieren. Birte, die sich sicher war, heute wieder ins Haus Jona zu kommen, hält es nicht mehr aus: Aufgewühlt stürmt sie aus dem Zimmer. Kurz danach erklärt Dassow gegenüber Hinz&Kunzt: „Ob Frau Martins Anspruch auf ALG II hat, hätten wir heute festgestellt.“ Auf den Hinweis, dass Birte noch in der Nähe sei, antwortet er: „Mittlerweile ist kein Mitarbeiter mehr da.“ Es ist Freitag kurz nach halb zwei.

Gleichzeitig bemüht sich die ARGE-Zentrale um eine Alternative: Birte und die Kinder könnten sofort in eine unmöblierte Unterkunft für obdachlose Familien ziehen. Der Hausmeister verspricht, sich um Betten zu kümmern. Aber inzwischen ist Birte völlig kraftlos – und nach wie vor ohne jeden Cent. Sie sitzt da und weint. Die Bahnhofsmission und Hinz&Kunzt beschließen, Birte drei Übernachtungen im Haus Jona zu bezahlen. Sie und die Kinder sollen erst mal zur Ruhe kommen, bevor es am Montag weitergeht. 

Marc-André Rüssau

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