Wo die Ruhe ewig ist: ein Ortstermin mit bedecktem Kopf in Ohlsdorf
(aus Hinz&Kunzt 153/November 2005)
Ups – wo sind wir gelandet? Stehen an einer vierspurigen Piste mit Namen Nordheimstraße, verstehen unser eigenes Wort nicht. Linker Hand verläuft die Fuhlsbüttler Straße, vor uns ein Wohngebiet aus drei- und vierstöckigen Bauten. Durchzogen von kurzen, krummen Straßen mit sinnlichen Namen: Kerbelweg, Salbeiweg, Thymianstieg. Leere Wäschestangen. Spielplätze, auf denen niemand spielt. Keine Geschäfte. Hinter den letzten Wohnhäusern ein hoher Zaun und dichtes Gebüsch. Das müsste der südliche Rand des Ohlsdorfer Friedhofes sein. Niemand ist unterwegs, der Auskunft geben könnte.
Also umdrehen, zurück und die „Fuhle“ hoch, wie man hier sagt. Richtung Ohlsdorfer Bahnhof. Entlang schmucker Stadthäuser mit Panoramafenstern und verklinkerten Schändlichkeiten. Vorbei an der Feuerbergstraße (hier ist die also) und an der Nikodemusgemeinde, benannt nach Nikodemus, dem Patron der Schmiede, Hoher Priester, dennoch Fürsprecher Jesu, somit Garant für den jüdisch christlichen Dialog. Gleich dahinter lockt rechts die Ilandkoppel, eine prachtvolle Kopfsteinpflasterstraße. Sie wird breiter, gemächlicher, schöner. Schnell schwindet der Verkehrslärm. Linker Hand der Ohlsdorfer Friedhof, und auch rechts erstreckt sich jetzt ein Areal mit Büschen und Bäumen hinter einem soliden Zaun. Aha, eine Stichstraße, die mitten in den Ohlsdorfer Friedhof führt.
„Oh nein“, sagt ein älterer Herr, der hinter sich die Gartenpforte schließt: „Rechts ist der jüdische Friedhof.“ Und der gehöre keinesfalls zum Ohlsdorfer, sei schon immer eigenständig gewesen. Gehen wir doch den Weg zu Ende. Ein schmiedeeisernes Tor öffnet sich, dahinter erhebt sich eine Kapelle aus rotem Backstein mit vier Türmen. Drei Stufen hoch und bei der Friedhofsverwaltung angeklopft. Gerne gibt Gerold Helmts Auskunft. Aber erst mal bückt er sich zu seinem Kofferradio herunter, dreht dem plappernden Gute-Laune-Sender den Saft ab. Hinter ihm bedeckt eine Karte die Wand; Linien, Markierungen, Kästchen. Die Hauptwege, die Nebenwege, jedes einzelne Grab. Handgeschrieben auch die Kärtchen in einem halbhohen Schrank. Wer hier wann und wo beerdigt wurde, ist säuberlich eingetragen. Wenn zwischendurch Zeit ist, nimmt er sich einige der Kärtchen und trägt die handschriftlichen Daten in den Computer ein.
Aber jetzt erst mal eine Überraschung: „Ich bin gar kein Jude“, sagt Gerold Helmts, „sondern arbeite für die jüdische Gemeinde, bin ansonsten ganz normaler Protestant und komme eigentlich aus Ostfriesland.“ Als ein Gärtner gesucht wurde, der sich auch ein wenig um die Verwaltung kümmert, hat er sich beworben. Drei Jahre ist das jetzt her. Der Job gefällt ihm, und er erklärt: „Ein jüdischer Friedhof bleibt bestehen bis zum jüngsten Tag. Ein Grab nach 25 Jahren aufzulösen – absolut undenkbar. Und eigentlich besucht man seine Toten auch nicht. Man lässt sie in Ruhe.“ Sichtlich beeindruckt ist er von der Klarheit und Schlichtheit der jüdischen Glaubenssätze und Riten. Bei seiner Kirche würde heute ja vieles umkippen ins Beliebige und den Glauben verwässern. Etwa Gottesdienste für Tiere! Gerold Helmts schnaubt kurz durch die Nase.
Aber genug geredet. Er will den Friedhof zeigen. Reicht je eine Kipa, damit der Kopf bedeckt bleibt. Er selbst trägt einen Cowboyhut. Aus Känguruleder. Beschwingten Schrittes geht er voran. Mächtige Bäume haben sich ihren Platz genommen – mehr ein Wald als ein Park. Helmts will uns zeigen, wie sich die Grabanlagen über die Jahrzehnte verändert haben. Will auf das Grab mit den massiven Marmorsäulen hinweisen, die erst in vier Metern Höhe enden. Robert Ganz ließ es für seine Frau Paula erbauen:„Zum Andenken einer seltenen Frau.“
Gerold Helmts bleibt plötzlich stehen, schaut nachdenklich in einen Seitengang. Ein Grabstein ist umgekippt und liegt auf dem Weg. Das ist nun so eine Sache: Einerseits soll der Friedhof jüdischer Tradition gemäß sich selbst überlassen bleiben, damit die Zeit in all ihrer Ewigkeit wirkt. Andererseits soll er natürlich begehbar bleiben; niemand soll stolpern, sich gar verletzen.
Ach, er wollte eine Besonderheit zeigen: den ältesten Grabstein. Nicht allein, weil er der allererste ist. Sondern weil der Stein der Friederike Rosenberg, die am 29. September 1883 starb, in den Stamm einer Rotbuche so eingewachsen ist, als gehörten beide von Anfang an untrennbar zusammen. „Normalerweise heben die Wurzeln den Stein über die Jahre an und irgendwann bricht er aus seiner Verankerung. Der hier aber nicht.“ Und er macht ein Gesicht, als könne man das durchaus deuten.
Weiter geht es in Richtung Westen, wo die neuen Gräber liegen. Zuwanderer jüdischen Glaubens aus Russland, der Ukraine, Kasachstan sind hier beerdigt. Blumen sind gepflanzt, die Inschriften golden gefasst. „Viele Juden, die aus dem Osten kamen und noch kommen“, erklärt er,„konnten dort ihren Glauben kaum praktizieren, deshalb wirken ihre Gräber so weltlich.“ Hinter einer Buchsbaumhecke weitere Grabstellen. „Das sind die Gräber für Mischehen, bei denen der eine Ehepartner jüdischen Glaubens war und der andere nicht.“
Elf Hektar umfasst das Gelände. 30 bis 40 Beerdigungen haben sie im Jahr. Platz ist noch reichlich vorhanden, sollte das jüdische Leben weiter erblühen und damit auch Grabstätten benötigen. Zurück geht es wieder durch den alten Teil. Die Steine sind verwittert und bemoost, die Inschriften meist nicht mehr zu entziffern. Als die Nazis die jüdischen Friedhöfe am Grindel und in Ottensen gewaltsam auflösten, brachte man die sterblichen Überreste und die Grabsteine hierher.
Anfangs sei es ihm durchaus nicht leichtgefallen, an einem Ort zu arbeiten, an dem der Tod so gegenwärtig ist. Auch wenn er an rituellen Handlungen wie dem Waschen und Einkleiden der Toten nicht teilnehme. Man müsse sich schon mit dem Tod auseinandersetzen. „Schwierig“, sagt Gerold Helmts, „muss es für die Leute sein, die keinen Glauben haben. Da weiß man ja nicht, was kommt. Da ist es einfach aus.“ Für den folgenden Tag hat sich eine Schulklasse angemeldet. Und er, der Nichtjude, wird sie über den jüdischen Friedhof führen und weitergeben, was er weiß.