Good bye, Armut!

Der 17. Oktober ist Welttag zur Beseitigung der Armut. Wohnungslose aus aller Welt erzählen, wie sie Halt und Obdach verloren, auf der Straße überlebten und Mut für eine besser Zukunft schöpfen

(aus Hinz&Kunzt 152/Oktober 2005)

Kati, 30, Melbourne, Australien

Von Brisbane nach Melbourne zu ziehen war keine so gute Idee. Ich bin bei einer sehr guten Freundin untergekommen, aber nach zehn Tagen hat sie mich rausgeschmissen, obwohl es gar keinen Streit gab. Seitdem habe ich oft Angst vor Menschen. Drei Monate habe ich auf der Straße gelebt. Dann bin ich bei diesem Community Center gelandet, wo man im Garten arbeiten kann – die körperliche Arbeit tut mir gut. Als ich bei der Heilsarmee ein Plakat für Fußballtraining sah, war ich erst viel zu ängstlich, aber inzwischen gehe ich jede Woche zum Training. Das hat mir geholfen, wieder zu kommunizieren. Das Witzige am Sport ist: Du merkst nicht, wie er dir hilft. Außerdem habe ich einen Job in einem vegetarischen Imbiss. Ohne Fußball hätte ich mich gar nicht getraut, mich dort vorzustellen. Aber meine Trainer haben mir Mut gemacht. Genauso bei der Wohnungssuche: Ich hab mir die Hacken abgewetzt, aber will schon mit einer 18-jährigen Obdachlosen zusammenwohnen? Jetzt wohne ich in einer alten Lagerhalle, mit vielen Leuten.

Sara Coelho, 26, Sintra, Portugal

Seit ich 13 war, bin ich immer wieder weggelaufen, in die Berge oder an den Strand. Eine Zeit lang habe ich in leeren Eisenbahnwaggons gehaust. Das war ein Teil meines Lebens, der mir gefallen hat. Aber dann habe ich Heroin und Koks genommen, absolut wahnsinnige Sachen gemacht. Als ich aufhörte, mich zu waschen, habe ich mir gesagt: Hey, du hast was Besseres verdient. Von einem Tag auf den anderen habe ich mit den Drogen aufgehört. Es war der letzte Moment. Ich habe gespürt, wie es mich ruiniert hat. Ich muss einen Schutzengel haben. Ich bin manisch-depressiv und fand es unfair, dass meine Eltern sich immer Sorgen um mich machten. Deshalb bin ich zu ihnen zurückgekehrt und mache eine Ausbildung zur Holzbildhauerin, studiere nebenher Innenarchitektur. Dafür bekomme ich den staatlichen Mindestlohn von 450 Euro, aber ich liefere das Geld bei meinen Eltern ab. Es ist gefährlich für mich, Geld zu haben. In der manischen Phase kaufe ich lauter unsinnige Sachen. Lieber lebe ich von der Hand in den Mund.

Ho Chung Bun, 22, Hong Kong

Bis vor drei Jahren habe ich Regierungsgebäude gereinigt. Aber meine Firma hat den Vertrag verloren; ich habe erst meine Arbeit und dann meine Wohnung verloren. Ich habe in einem Fußballstadion übernachtet, mit vielen anderen Obdachlosen. Du kommst spätabends todmüde von der Jobsuche dort an, schläfst sofort ein. Morgens um acht musst du schnell wieder raus, weil die Putzbrigade kommt. Da ist kein Platz für Gemeinschaft. Aber für mich war das Schlimmste, keine Privatsphäre zu haben; keine Küche. Nach zwei Monaten hatte ich einen Platz in einem Asyl. Jetzt habe ich wieder einen Putzjob, für 30 Euro am Tag – aber nur auf Abruf. Vom Staat bekomme ich einen Zuschuss zu einer kleinen Wohnung, höchstens für ein Jahr. Ich suche deshalb einen Zweitjob. Am liebsten würde ich Bauarbeiter werden. Für eine feste Stelle würde ich auch nach China gehen. Meine Freundin wohnt in Taiwan. Wir sehen uns nie. Mein einziger Luxus sind Online-Spiele, für zwölf Euro im Monat. Manchmal spiele ich 24 Stunden am Stück.

Stephanie Johnson, 45, Charlotte, North Carolina, USA

Mein letztes Geld reichte gerade für ein Busticket nach Charlotte. Ein echter Glücksfall: Es gibt wohl keinen besseren Ort in den USA, wenn du obdachlos bist. Die Kirchen geben dir zu essen, die Menschen sind sehr freundlich. Ich schlafe in einem verlassenen Kleinbus, aber das weiß keiner. Ich stehe um fünf Uhr auf und warte, dass die Stadtmission aufmacht, wo ich mich duschen kann. Tagsüber sitze ich im Park oder in der Bibliothek. Die Tasche mit meinen Habseligkeiten verstecke ich. Ich habe 15 Jahre lang alle Arten von Drogen genommen, dabei immer zwei Jobs gehabt. Ich bin clean geworden, indem ich mich gefragt habe, was mir das Herz gebrochen hat – und mit Gottes Hilfe. Mein neues Motto ist: „Kurzes Leben, lange tot“ – ich muss was draus machen. Ich will Vertretungslehrerin werden. Ich habe ein bisschen studiert und kann mich berufsbegleitend weiterbilden. Und ich will erleben, wie mein Sohn das College abschließt. Er wird Flugzeugingenieur. Ein guter Junge: kein Alkohol, kein Sex.

Nazareno Silva, 26, Buenos Aires, Argentinien

Als in Argentinien alles zusammenbrach, habe ich meine Arbeit in einem medizinischen Labor verloren. Weil ich meine Miete nicht bezahlen konnte, hat die Vermieterin meine ganze Habe behalten. Ich habe unter Vordächern geschlafen oder in einer kirchlichen Unterkunft. Dann habe ich mit drei Kumpels einen Supermarkt überfallen, Geiseln genommen. Ich wurde niedergeschossen und bin für eineinhalb Jahre im Knast gelandet. Das passiert mir nie wieder! Ich will meine kleinen Kinder aufwachsen sehen; deshalb habe ich neu angefangen: Tagsüber sammle ich Pappkartons und Dosen, abends verkaufe ich die Straßenzeitung. Dazwischen muss ich noch Sozialauflagen ableisten. Das ist hart, aber mit dem Lohn meiner Frau haben wir es geschafft, ein Häuschen zu kaufen – nur ein Zimmer, mit einer Wolldecke geteilt. Es liegt in einer illegalen Siedlung mitten in der Stadt, in der viele Kugeln fliegen. Mit der Adresse ist es sehr schwer, einen richtigen Job zu finden. Aber in fünf Jahren bin ich eh’ Recycling-Unternehmer!


Ricardo Phillips, 17, Toronto, Kanada

Voriges Jahr sagte meine Mutter plötzlich: „Wir gehen zurück nach Jamaica.“ Ich wollte nicht. Da gibt es keine Perspektive. Wir hatten uns zum Abschiedsessen verabredet, aber meine Mom ist nicht aufgetaucht, zweimal sogar. Bis 16 konnte ich in einer Jugendwohnung wohnen. Danach habe ich auf einer Parkbank geschlafen. Ohne meine Schulfreunde wäre das kein Leben gewesen. Sie haben mich zum Essen mit nach Hause genommen und sind bis spät abends bei mir geblieben. Frühmorgens waren sie schon wieder da. Schließlich habe ich eine Notunterkunft für junge Erwachsene gefunden. Da gibt es sogar Taschengeld, 2,50 Euro am Tag. Aber das Essen ist grauenhaft und alle ärgern mich, weil ich der Jüngste bin. Neulich haben sie meine Klamotten geklaut, und, was das Schlimmste ist: meine Basketballschuhe. Basketball ist es, was mich am Leben hält. Ich bin so gut, dass ich Chancen auf ein College-Stipendium habe. Wenn ich meine Mom anrufe, um ihr zu sagen, wie viele Punkte ich gemacht habe, sagt sie nur: „Junge, bleib’ anständig.“ Aber ich kann ihr nicht böse sein. Sie ist doch meine Mom! Am liebsten würde ich sie irgendwann zurück nach Kanada holen. 

Protokolle: Jan Kahlcke

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