Am Schäferkamp in Hoisbüttel: Wie sich Ostflüchtlinge auf ehemaligem Ackerland eine neue Heimat gebaut haben
(aus Hinz&Kunzt 149/Juli 2005)
Es ist eine naive Vorstellung, die Stadt würde an der Hamburgischen Landesgrenze enden. Aber unwillkürlich denkt man an Felder und endlose Weiten, wenn der Pfeil außerhalb der dicken roten Linie eingeschlagen ist. Nicht, dass wir es drauf angelegt hätten. Aber treffen Sie mal Große Freiheit, Schöne Aussicht oder Lange Reihe, wenn Sie einen Pfeil rückwärts über die Schulter auf den Stadtplan schmeißen müssen.
Hoisbüttel hat immerhin einen U-Bahnhof, der richtigerweise Hochbahnhof heißen muss, sogar schon ziemlich lange. Läppische 33 Minuten vom Haupt-bahnhof. Und wo U-Bahnen fahren, bauen die Men-schen Häuser – oder ist es andersherum? So genau lässt sich das heute nicht mehr sagen. In Hoisbüttel jedenfalls, das zur schleswig-holsteinischen Gemeinde Ammersbek ge-hört, stehen die Häuschen dicht an dicht, als ob eines in den Garten des anderen gestellt worden wäre.
Unser Weg führt an die Lottbek. Das plätschernde Gewässer ist sozu-sagen der Grenzbach zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein. Manche Anwohner haben eine kleine Brücke darüber gebaut, um auf ihr Grundstück zu kommen. Sie wachen morgens in Hamburg auf, rollen mit ihren Autos die Auffahrt hinunter nach Schleswig-Holstein, um nach Hamburg zur Arbeit zu fahren. Würden wir uns quer mitten in die Lottbek stellen, hätten wir einen Fuß in Ole-Land und den anderen in Peter-Harry-Land. Aber das lassen wir lieber, gehen trockenen Fußes weiter in den Schäferkamp. Hier sieht es schon ziemlich nach Land aus. Am Straßenrand wachsen Feldblumen, Gräser und Pferdeäpfel, dahinter grasen seelenruhig Ponys. Dem schwarzen hängt vom Geschirr eine Reihe Rasta-Zöpfe vor den Augen. Wahrscheinlich hat es immer Pas-santen angeglotzt, und die haben sich irgendwann beim Besitzer beschwert.
Wir haben unser Ziel erreicht: Dort hinten ist wirklich das Ende der Stadt, nicht nur politisch. Kein Haus mehr, nur noch Felder. Am Ende des Schäferkamps hört die Straßendecke einfach auf, aber das ist eine andere Geschichte. Wir stoppen kurz vorher, an der Kreuzung Am Wolkenbarg. Unser Pfeil wäre ziemlich genau im Goldfischteich von Dieter Henseleit gelandet. „Ich bin hier in der Siedlung geboren“, sagt der 62-Jährige. Siedlung? Wir sehen uns irritiert um. „Das sehen Sie nicht, weil die Häuser kreuz und quer stehen“, sagt er. Nach dem Krieg entstand hier eine so genannte Kleinsthofsiedlung, vor allem für Ostflüchtlinge. Jede der 20 Familien hatte ein kleines Stück Land für den bäuerlichen Nebenerwerb. Henseleit, dessen Name ostpreußische Wurzeln verrät, ist geblie-ben und kaufte sich 1975 sein eigenes Siedlungshaus. Zu sehen ist davon allerdings nicht mehr viel, was daran liegen mag, dass er Maurer ist. Er hat so kräftig angebaut, dass genügend Platz für seine Tochter mit Mann und sechs Kindern ist. Und das Haus mit rotem Backstein und blauen Fenstern so aufgehübscht, dass es wie ein Neubau wirkt.
Heute muss Henseleit kürzer treten. Er trägt zwar Arbeitskleidung, aber zwei Knieprothesen fordern Tribut. Mehr als zehn Kilo darf er nicht mehr tragen. „Hätte ich man nich’ soviel Fußball gespielt“, sagt er schmunzelnd. Seit 50 Jahren gibt es den Hoisbütteler Sportverein, seit 50 Jahren ist Henseleit Mitglied in „unserem Mini-HSV“. Wenn wir nun noch mehr wissen wollen, sagt er, müssen wir zu seinem Nachbarn gehen, dem Siedlungsobmann.
Arno Mahlmeister war der Jüngste unter den Sied-lern – „und der mit dem größten Mundwerk, ich kam ja von Berlin.“ Deshalb haben sie ihn gleich zum Obmann gewählt. Theoretisch ist er das bis heute, denn die Siedlungsgemeinschaft hat sich nie formell aufgelöst. Aber die anderen sind längst gestorben. Zwei Witwen leben noch – und die Mahl-meisters, Arno, 93, und Therese, 86. Fünf Kinder haben die beiden in ihrem Haus groß gezogen, zweimal Zwillinge. „Vadder“, wie Therese ihn nennt, fuhr täglich mit der U-Bahn nach Hamburg, zu C&A, wo der gelernte Schneider Verkäufer war. Ein Vierteljahrhundert lang kam er jeden Tag mit zwei vollen Eimern aus der Firmenkantine nach Hause – für die Schweine. Was heute aussieht wie eine nicht eben geräumige Waschküche, bot einst zwei Rindern Platz, unter einem Dach mit den Mahlmeisters. Thereses riesiger Gemüsegarten ist heute mit Rasen bedeckt.
„Das Wirtschaftswunder hat uns überrollt“, sagt er. Anfang der 70er-Jahre war im Supermarkt alles billiger, als sie es herstellen konnten, „sogar die Eier“. 1973 war es, „da kam der letzte Ochse weg“, erinnert sie sich. Heute sitzen die Mahlmeisters am liebsten in einem Bretterverschlag mit Glasdach, halb draußen. Wenn sie nicht gerade in dem kleinen Gemüsegarten für den eigenen Bedarf ackern, ihre prachtvollen Stauden hegen oder Bäume beschneiden. Die Grundstücke ringsum haben sie nach und nach verkauft, den Kindern etwas Geld zugesteckt und endlich Reisen gemacht – nach Italien, Frankreich, Indien, Brasili-en, sogar in der Sowjetunion waren sie ein paar Mal. „Da hieß es hier gleich, wir seien Kommunisten.“ Zum Abschied zeigt sie lachend auf den akkurat geschnittenen Heckenbogen über der Gartenpforte: „Sehn Sie mal, unsere rot-grüne Vereinigung.“ Tatsächlich wächst von rechts eine rote Blutbuche und von links eine grüne Hainbuche, in der Mitte gibt es zarte Überlappungen. Auch das haben die Nachbarn genau beobachtet – und gedeutet.
Auf dem Rückweg wissen wir den Schäferkamp erst richtig zu schät-zen. Arno Mahlmeister hat uns erzählt, wie er dem Bauern einst das Land dafür abgeschnackt hat, für vier Mark pro Quadratmeter. Wie er den Verlauf der Straße mit einem Maßband ausgemessen hat, das er gefunden hatte. Und wie die Siedler Steine aus den Trümmerbergen am Berliner Tor geborgen haben, um sie zu pflastern. „Damit wir es nicht mehr so weit zur U-Bahn hatten.“