Der Discounter Lidl expandiert – auf Kosten der Beschäftigten?
(aus Hinz&Kunzt 149/Juli 2005)
Bespitzelung, Arbeitshetze und unbezahlte Überstunden: So beschreibt die Gewerkschaft ver.di die Arbeitsbedingungen der bundesweit rund 33.000 Lidl-Beschäftigten. Während das Unternehmen nach außen von einer Diffamierungskampagne spricht, zeigt die ver.di-Kampagne intern offenbar erste Wirkungen.
In der neu eröffneten Filiale im Bahnhof Altona ist von miesen Arbeitsbedingungen wenig zu spüren. Es ist Freitagabend, der Markt brummt und die junge Kassiererin hat alle Hände voll zu tun. Trotzdem hört sie der Gewerkschafterin geduldig zu, als diese statt mit Milchtüte oder Cola-Flasche mit Flugblatt und Visitenkarte vor ihr steht. „Ich bin Ihre Ansprechpartnerin bei ver.di“, sagt Anja Keuchel mit verbindlichem Lächeln und fügt an: „Rufen Sie mich an, wenn Sie mögen.“ Die Angesprochene dankt, auch ihre drei Kolleginnen nehmen das kleingefaltete Papier freundlich entgegen, ebenso die Marktleiterin. Die 35-jährige Gewerkschaftssekretärin erstaunt das nicht: „Es gibt Filialen, in denen alles in Ordnung ist.“
Das jedoch ist laut ver.di bei Lidl die Ausnahme. Glaubt man der Gewerkschaft, die über viele Monate Berichte von Beschäftigten aus der ganzen Republik gesammelt hat, herrschen in den Supermärkten der Schwarz-Gruppe vor allem Kontrolle, Vereinzelung und Misstrauen: das „System Lidl“. Bei der Discount-Kette würden „elementare Rechte sys-tematisch verletzt“, so die Bilanz in einem kürzlich veröffentlichten „Schwarzbuch“. Von Videoüberwachung, Taschenkontrollen und verdeckten Testkäufen berichten Mitarbeiter, von vielen unbezahlten Überstunden und hohem Leistungsdruck: „Pro Minute muss jede Lidl-Verkäuferin 40 Produkte über den Kassenscanner ziehen. Wer diese Vorgabe vier Monate nach der Einstellung nicht schafft, fliegt. Zur Not werden dafür auch Kündigungsgründe konstruiert; etwa der Griff in die Kasse oder in die Pfandkasse“, berichtet eine Betroffene.
Wer sich für die Belange der Kollegen einsetzt oder gar auf die Idee kommt, einen Betriebsrat gründen zu wollen, wird rausgeschmissen, behaupten andere. Tatsächlich gibt es laut ver.di nur in acht der bundesweit rund 2600 Lidl-Märkte eine Interessen-vertretung der Beschäftigten – in aller Regel Frau-en, die oft in Teilzeit arbeiten. Der Druck kommt offenbar von oben: „Machen Sie den Verkäuferin-nen klar, dass Sie der Boss sind und Sie sie jederzeit rausschmeißen können“, habe er gleich bei seiner Einarbeitung eingeschärft bekommen, schil-dert ein ehemaliger Verkaufsleiter im Schwarzbuch. „Die Atmosphäre von Angst und Druck ist beklemmend.“ Während im Internetforum der Gewerkschaft neue Betroffenen-Berichte über miserable Arbeitsbedingungen eingehen, möchte die Unternehmensgruppe mit Sitz in Neckarsulm ihre Beschäftigten in Hinz&Kunzt nicht zu Wort kommen lassen: „Ihrem Interviewwunsch können wir leider nicht nachkommen.“
Statt Hamburger Lidl-Mitarbeitern äußert sich eine PR-Agentur im Auf-rag der Schwarz-Gruppe (auch Kaufland, Kauf-Markt, Handelshof) zu den Vorwürfen: Die Gewerkschaft betreibe eine „Diffamierungskampagne“: „Wer so erfolgreich ist, erreicht dies nur mit zufriedenen und motivierten Mitarbeitern.“ Mit 20.000 neuen Jobs innerhalb der vergan-genen drei Jahre sei die Unternehmensgruppe „die Nummer eins in Deutschland in der Schaffung von Arbeitsplätzen“. Die Arbeitsbelastung sei „nicht höher als bei anderen vergleichbaren Wettbewerbern“, das Betriebsklima „gut und fair“. Unbezahlte Überstunden gebe es nicht, wohl aber „regelmäßige Taschenkontrollen“. Mit ihrer Hilfe seien „Unterschlagungen durch Mitarbeiter in zweistelliger Millionenhöhe aufgedeckt“ worden. Auch den Einsatz von Videokameras gegen Beschäftigte räumt das Unternehmen ein, „allerdings erst, wenn ein absolut konkreter Verdacht gegen einzelne Mitarbeiter vorliegt“. Und Testkäufe seien „ein im Handel selbstverständliches Instrumentarium zur Sicherung von Service und Kundenorientierung“.
Tatsächlich, auch das lässt sich auf der Gewerkschafts-Homepage nachlesen, leiden auch Angestellte anderer Supermarkt-Ketten unter schlechten Arbeitsbedingungen und vielfacher Kontrolle. Schon vor zehn Jahren startete die damalige Gewerkschaft HBV eine Kampagne gegen die Drogerie-Kette Schlecker, um dort Missstände und Tarifbetrug einzudämmen. Mit Erfolg: Schlecker lenkte ein, schloss einen Tarifvertrag ab und ermöglichte Betriebsräte. Heute gibt es laut ver.di immerhin für 3000 der bundesweit 11.000 Drogerie-Filialen eine Interessenvertretung. Auch bei der Schwarz-Gruppe zeigt die Gewerk-schaftskampagne Wirkung: Nach ver.di-Informationen wurden Verkaufsleiter bundesweit angewiesen, weniger hart gegen Beschäftigte, zum Beispiel Ältere, vorzugehen; Arbeitszeiten dürften vielerorts korrekter aufgeschrieben werden.
Und anders als in der Vergangenheit veröffentlicht das Unternehmen neuerdings Kennzahlen. Der Umsatz der Firmengruppe sei in den vergangenen drei Jahren um 44 Prozent auf gut 36 Milliarden Euro gestiegen, erneut werde „ein zweistelliges Umsatz-wachstum angepeilt“. Auch bemüht sich die Gruppe um öffentliches Ansehen. „100 Prozent freundlich“ geht es seit März in den Lidl-Filialen zu, glaubt man dem Slogan, den Mitarbeiter auf ein Schlüsselband gedruckt um den Hals tragen. Und in TV-Spots warb das Unternehmen: „Lidl sucht den Super-Azubi“, 1000 Ausbildungsplätze seien zu vergeben. Laut Schwarz-Gruppe haben sich 80.000 Jugendliche um eine Lehrstelle bei Lidl beworben.
„Beschäftigte akzeptieren im Arbeitsvertrag alles, um einen Job zu bekommen“, weiß Wolfgang Hanke. Der 53-Jährige engagiert sich als Betriebsrat bei Rewe und war sofort bereit, bei den Hamburger Lidl-Kollegen für die Bildung von Interessenvertretungen zu werben. Nun, ein halbes Jahr später, startet ver.di mit rund 25 Ehrenamtlichen eine zweite Runde mit Filialbesuchen. Dass der Kampf für bessere Arbeits-bedingungen noch eine Weile währen könnte, zeigt die Erfahrung zweier Betriebsrätinnen. Sie wollten kürzlich den Beschäftigten einer Lidl-Filiale in Harburg die Vorzüge einer Arbeitnehmervertretung erläutern. Doch kamen sie nicht weit, berichtet ver.di-Frau Anja Keuchel: „Die sind rausgeschmissen worden und haben Hausverbot bekommen.“