Wohnen auf dem Pulverfass

Wo früher eine Munitionsfabrik war, ist heute eine friedliche Siedlung: Ortstermin in Schenefeld

(aus Hinz&Kunzt 148/Juni 2005)

Vielleicht doch aus der Stadt rausziehen? Nicht gleich aufs Land, aber an den Rand, wo es gemächlicher zugeht? Nach Schenefeld etwa, Rückzugsgebiet für Hamburger, die sich ein eigenes Häuschen gönnen und doch nicht zu fern der Großstadt sein wollen. Ein Schild weist den Weg zur Siedlung Schenefeld. Altonaer Chaussee, Gorch-Fock-Straße, Friedrich-Ebert-Allee, sofort wird es beschaulich. Es summt in der Luft. Und wo ist hier die Siedlung?

Herr Peters holt gerade die Post aus dem Briefkasten, vorn an der Pforte. Allerdings, das hier sei die Siedlung Schenefeld, wir stünden ja mitten drin. Wir sollten doch mal richtig gucken und uns Bäume, Schuppen, Anbauten wegdenken: Alle Häuser haben denselben Grundriss, dieselbe Dachform. Reihe für Reihe. Ob wir wüssten, was die Treppen-aufgänge früher waren? Tatsächlich geht es nicht ebenerdig zur Tür herein, sondern über ein paar Stufen links und rechts. Das seien früher die Ver-laderampen gewesen: für die Pulverschuppen der Munitionsfabrik. Ewald Peters macht eine weite Armbewegung: „Das war früher alles Sperrgebiet. Niemand kam rein, der nicht rein durfte.“ Bahnschienen liefen von Schuppen zu Schuppen und weiter bis zum Haupttor.

Gegründet wurde die Fabrik kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Als man gerade so richtig produzieren konnte, war der Krieg verloren. Die Sieger kommen und demontieren die Fabrik, nehmen auch die für damalige Zeiten hochmoderne Heizungsanlage samt Kraftwerk mit; der Sprengstoff durfte nicht zu kühl werden. Das Gelände liegt brach, bis Anfang der 20er-Jahre eine Bank einen Teil kauft und die ersten Sied-lungshäuser herrichten lässt, für Flüchtlinge aus Westpreußen. In einem der Häuser wird Ewald Peters geboren. Wächst hier auf, streunt durch die Gegend, sucht mit anderen Kindern Schwarzpulverreste. 128 Siedler seien sie gewesen. Jeder kannte jeden. Man sprach Platt. Und wehe, man grüßte morgens auf dem Schulweg den Nachbarn nicht. Spätestens mittags wussten es alle.

Ab Mitte der 30er-Jahre wird die Siedlung erweitert. Die Schiffersiedlung kommt hinzu, die Erwerbslosensiedlung. Arbeitslose Handwerker aus der Gegend werden verpflichtet, die Häuser zu erbauen. Wer Glück hat und das richtige Los zieht, darf in einem wohnen. Ganz korrekt ist das nicht: Bis dato gehörten Teile des Geländes einem jüdischen Kaufmann namens Leo Brummer. Per Dekret wurde der Besitz Staatsdomäne. Und Herr Brummer? Soll nach Amerika ausgewandert sein, kam wohl nicht wieder zurück. Aber Genaues weiß Herr Peters nicht.

Die Siedlung wächst, der Krieg wird vom Zaun gebrochen, die Männer ziehen los. Die Nazis verlangen nun die Gegenleistung dafür, dass sie die Leute so billig haben wohnen lassen. Einmal fallen Bomben auf die Siedlung. Die stabilen Kellerräume zeigen, dass sie auch modernem Sprengstoff gewachsen sind. Ewald Peters hat Glück. Er übersteht den Krieg, gerät in britische Gefangenschaft, ist schon im September 1945 wieder hier. Er gründet eine Familie, übernimmt die väterliche Gärtnerei. Schult um auf Elektrotechnik, als sich das Geschäft mit Bäumen, Sträuchern und Pflanzen nicht mehr recht lohnt. Heute wohnt seine Tochter mit ihrem Mann in einem Teil seines Hauses. Braucht er Hilfe, sind sie zur Stelle: „Wir haben ein vorzügliches Verhältnis.“ Und Herr Peters klopft mit den Fingerknöcheln gegen die stabilen Träger, die sein Haus schützen. Ach, gerne lebt er hier. Jedes Siedlungshaus zeige längst sein eigenes Gesicht.

Tatsächlich findet man alle Stile. Bei den einen ist der Vorgarten mit Platten ausgelegt, die kein Grashälmchen dulden. Dazu passen Metalljalousien und massive Eingangstüren. Andere haben das Dachgeschoss großzügig ausgebaut und lassen durch breite Fensterfronten Licht herein. Bei einigen reicht eine schlichte Hecke, bei anderen muss es ein schmiedeeiserner Zaun mit weiß lackierten Spitzen sein. Ein gebräunter Rentner sitzt vor einem künstlich grünen Rasen auf einer Edelholzliege zwischen polierten Feldsteinen und präsentiert seine Variante des American Country Style. Drei Häuser weiter verschwindet die Veranda hinter Rankpflanzen; davor ein Gemüsegarten mit Hügelbeeten und einer verwunschenen Ecke, wo Himbeeren und Brombeeren der Sonne entgegensprießen. Und immer wieder die massiven Grundmauern, auf denen sich jedes Haus erhebt. „Das war so gedacht“, erklärt Herr Peters, „ging mit der Munition was schief, flog oben alles weg, aber unten blieb es stehen.“

Natürlich überwiegen jetzt die Zugezogenen. Nur wenige der Alten sind noch da. Wie sein Nachbar. Oh, wie hat der sein Haus verkommen lassen! Nichts ist gemacht worden. Am Dach nicht, an der Fassade nicht, am Fundament schon gar nicht. Außen blättert die Farbe ab, einige Fensterscheiben sind durch Plastikplanen ersetzt. Herr Peters grinst: „Wir kennen uns schon lange: Er ist mein Cousin, nur ein Jahr jünger. Aber wir haben uns noch nie gut verstanden.“ Heftigen Ärger gab es, als Herr Peters sein Haus verklinkern wollte. In Eigenarbeit, nach Feierabend, wann denn sonst? Das passte seinem Verwandten nicht: zu viel Lärm, zu viel Dreck. Aber Herr Peters holte sich beim Amt eine Bescheinigung, dass er wochentags bis 21 Uhr werkeln durfte und auch am Samstag. Ein Jahr lang. Das hat das Verhältnis nicht gerade entspannt. Mittlerweile grüßen sie sich wieder, wechseln auch mal das eine oder andere freundliche Wort. „Das Alter“, sagt Herr Peters, „stimmt einen doch milder.“

Er zeigt uns noch kurz seinen Garten, mit einem Quittenbäumchen und einem zarten Klarapfel-Baum. Zwischen den Blumen zwei Gräber, eines für Mino und eines für Moritz. Zwei Katzen, die eine aus einem Jugoslawienurlaub mitgebracht, die fern der Heimat zufrieden und an Altersschwäche starb; die andere schaffte gerade mal anderthalb Jahre, bis sie ein Auto überfuhr. So, aber jetzt ist Mittagszeit. Und Herr Peters winkt, dreht sich um und geht zurück in das Haus, in dem er seit 83 Jahren lebt.

Frank Keil

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