Die Stadt hat fünf Millionen Euro für ein Auswanderer-Museum auf der Veddel zugesagt. Doch die Konkurrenz in Bremerhaven ist schneller
(aus Hinz&Kunzt 148/Juni 2005)
Mannshohes Gestrüpp verdeckt den Blick auf die verrammelte Baracke. Irgendwann muss sie ihr Obergeschoss eingebüßt haben. Jemand hat den Backstein weiß übergetüncht, aber auch das ist schon verdammt lang her. Nichts deutet darauf hin, dass hier am Veddeler Bogen einmal das Zentrum der europäischen Auswanderung nach Amerika gewesen ist.
Auch Nikolaj weiß davon nichts. Er verdient auf dem Gelände sein Geld – gewissermaßen auch mit „Auswanderern“, allerdings aus Blech und Plastik. Fast alle seiner Gebrauchtwagen gehen nach Polen, spätere Weiterreise gen Osten nicht ausgeschlossen. Nikolaj ist selbst ein Stück lebende Migrationsgeschichte: Seine Vorfahren trieb die Suche nach einem besseren Leben einst von Deutschland bis nach Sibirien. Für ihn ging es als Spätaussiedler retour.
Rund fünf Millionen Menschen aus Europa wanderten zwischen 1850 und 1934 über den Hamburger Hafen aus, meist in die USA. Mehr als die Hälfte von ihnen waren osteuropäische Juden, häufig auf der Flucht vor Pogromen in ihrer Heimat. Für die „Hanseatische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft“ (HAPAG) wurde die Auswanderung zum zentralen Geschäftsfeld. Doch 1892 schloss Preußen die Grenze, weil in Hamburg die Cholera wütete, und das Millionengeschäft kam zum Erliegen. Die Wiederaufnahme erwirkte HAPAG-Generaldirektor Albert Ballin nur gegen strikte Auflagen – zum Beispiel die Schaffung von Unterkünften direkt im Hafen, in denen sich die armen Zwischendeckspassagiere bis zur Abreise zwangsweise aufzuhalten hatten.
Die erste Baracke entstand direkt am Amerikakai, ab 1898 ließ die HAPAG im großen Stil auf der Veddel bauen: 18 Schlafsäle sowie zwei Hotels für die betuchtere Kundschaft, eine ökumenische Kirche und eine Synagoge, getrennte Speisesäle für koscheres und nichtkoscheres Essen, Bäder und eine Desinfektionsanstalt – eine „Auswandererstadt“ sogar mit eigenem Bahnanschluss.
1963 war der Komplex fast völlig abgerissen, bis auf die schmutzigweiße Baracke am Veddeler Bogen. Nun soll sie das Herzstück eines Auswanderermuseums werden. Unter dem griffigen Titel „Ballinstadt“ hat die Stiftung Hamburg Maritim das Projekt angeschoben. Die Baracke soll wieder in den Originalzu-stand versetzt werden. Zwei Neubauten sol-len eine historische Ausstellung und ein Café aufnehmen, außerdem die Forschungsstelle Link to your roots mit tausenden Original-Passagierlisten der HAPAG. Außerdem soll ein Aussichtsturm für den symbolischen „Blick nach Westen“ entstehen, sowie eine schneckenhausförmige Großplastik, auf der Spender die Namen ihrer ausgewanderten Vor-fahren eingravieren lassen können.
Die Hansestadt stellte das Grundstück und einen Zuschuss von 300.000 Euro in Aussicht. Die übrigen Baukosten sollten Sponsoren aufbringen, was sich aber schwierig gestaltete. Da die Stiftung die Ballinstadt erfolgreich als Tourismus-Magneten für ahnenforschende US-Amerikaner darstellte, erhöhte der Senat 2003 den städtischen Zuschuss auf 3,75 Millionen Euro – die Hälfte der damals geplanten Kosten. Hapag Lloyd, die Norddeutsche Affinerie, die Hamburger Feuerkasse und der halb-staatliche Hamburger Flughafen sagten zusammen 2,45 Millionen Euro zu. Weniger erfolgreich verlief die Akquise in den USA. „Die Leute da sind sehr interessiert“, sagt Ursula Wöst von der Stiftung Hamburg Maritim, „aber wenn wir um Spenden bitten, fragen sie: Warum sammelt ihr nicht bei euch?“
Immerhin brachte der Ausflug in die USA Klarheit über die Gestaltung. „Wir haben hier in Amerika so viel Neues, da wollen wir in Europa etwas Altes sehen“, das ist in der Stiftung zum geflügelten Wort geworden. Also verschwand der bisherige Architekten-Entwurf in der Schublade. Stattdessen zog die Stiftung neue Präsentationstafeln aus dem Hut, auf denen statt der modernen Neubauten aus Stahl und Glas zwei Klone des alten Gebäudes zu sehen sind. „Es gibt ein großes Bedürfnis nach Authentizität“, heißt es dazu. Authentizität oder Disneyland? Eine Frage, über die sich trefflich streiten ließe. Aber die Entscheidung scheint längst gefallen. Derzeit wird fieberhaft nach einem Schlupfloch gesucht, um einen Architektenwettbewerb zu umgehen. Der wäre bei öffentlichen Investitionen dieser Größenordnung Pflicht, würde aber den Baubeginn in diesem Jahr gefährden.
Vor einigen Monaten legte der Senat noch einmal nach: Von den inzwischen 8,1 Millionen Euro, die Bau und Ausstattung des Museums kosten sollen, wird Hamburg nun 5,1 Millionen aus öffentlichen Mitteln beisteuern. Zusätzlich lässt die Stadt für 900.000 Euro eine Ausstellung im Museum für Hamburgische Geschichte über all jene Aspekte von Ein- und Auswanderung einrichten, die das neue Museum auf der Veddel nicht thematisiert – darunter die erzwungene Auswanderung von Juden im Nationalsozialismus.
Als Betreiber für die Ballinstadt steht die Firma LeisureWorkGroup bereit. Sie managt Edutainment-Center (von education und entertainment: Bildung und Unterhaltung) in Potsdam und Westerland, begibt sich mit einem historischen Museum aber auf Neu-land. Dem Vernehmen nach soll die LWG als einzige von zwölf Interessenten erklärt haben, das Museum ohne städtische Zuschüsse zu betreiben – Bedingung für den Zu-schlag. Dafür müssen jährlich 150.000 Besucher kommen. Und wenn es weniger werden? Daran mag im Moment niemand den-ken. Die öffentliche Hand müsste im Notfall einspringen – oder ihre Fünf-Millionen-Investition abschreiben.
Die Ballinstadt wird nicht vor 2007 fertig sein. Schon diesen Sommer aber eröffnet in Bremerhaven ein Konkurrenzunternehmen, gepäppelt mit 20 Millionen Euro aus Steuermitteln. Planziel: 170.000 Besucher im Jahr. Auch wenn man an der Außenweser die Kooperationsmöglichkeiten mit Hamburg betont, gibt Sprecherin Elisabeth von Hagenow zu: „Wir sind natürlich zwei Jahre eher auf dem Markt. In den USA haben wir Kontakte, die von Hamburg noch gar nichts gehört haben.“
Der Autohändler Nikolaj nimmt die Dinge ebenfalls gelassen. Er hat noch nicht mal eine Kündigung gesehen. Und wenn er gehen muss, wird er eben gehen, hinter die Bahngleise irgendwo. Er ist schließlich schon so weit gegangen in seinem Leben.