Als wir Hinz&Kunzt gegründet haben, gab’s noch keine Social Media wie Facebook und Co. Trotzdem wollten wir genau das sein – allerdings in einem anderen Sinne: eine schlagkräftige Lobby für Arme und Obdachlose. Bis heute ist das so geblieben.
(aus Hinz&Kunzt 244/Juni 2013)
Früher, da gab’s noch kein Facebook, die Leute hatten noch keine Handys, man organisierte nicht mal eben über Nacht irgendwelche Flashmobs per Internet. Es gab also noch keine „Social Media“. Aber wir fühlten uns so, allerdings in einem anderen Sinne. Wir wollten eine Brücke schlagen zwischen Armen und Reichen, zwischen Obdachlosen und Promis, zwischen Hinz&Künztlern und Lesern. Und wir wollten schlagkräftig, fantasievoll und konstruktiv sein. Ein bisschen wie Greenpeace fürs Soziale.
Im April 1995 landen wir dann unseren ersten großen Coup: Wir hören, dass Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) die Sozialhilfe kürzen will. Das Lohnabstandsgebot soll gelten, die Sozialhilfe daher 15 Prozent unterhalb des niedrigsten Einkommens liegen. Egal, ob man davon leben kann oder nicht. Wir mobilisieren wie verrückt: Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Promis. Inge Meysel ist dabei, Hark Bohm und die Bischöfe. Eine regelrechte Freundschaft entsteht in dieser Zeit mit dem Thalia Theater. Viele Initiativen, Kneipen und Kulturzentren machen mit. Und uns gelingt sogar eine bundesweite Aktion. Der Sänger Reinhard Mey schreibt uns: „Es gibt viele Schritte zurück ins Mittelalter, die Kürzung der Sozialhilfe aber ist der direkteste.“
Schwein gehabt: 24.989 Menschen unterzeichneten unseren Protestbrief an Horst Seehofer. Zu viert brechen wir Richtung Bonn auf: Verena Schmidt und Nina Kreutzfeldt arbeiten neben ihrem Studium bei uns als Redaktionsassistentinnen. Sie haben die Kampagne im Wesentlichen organisiert. Dann noch Hinz&Künztler Hans-Jürgen und ich. Wir waren angemeldet, und ein Mitarbeiter nahm die Bündel mit den Unterschriftenlisten in Empfang – sang- und klanglos. Und das nach all der Wirbelei! Die Kohl-Regierung hat das einfach ausgesessen.
Seitdem haben wir viele Aktionen gemacht, die jüngste nach dem Brand unter der Kennedybrücke. Einen Dauerbrenner gab es allerdings in diesen 20 Jahren: Immer wieder wollten Politiker, egal welcher Couleur, Obdachlose und/oder Bettler aus der Innenstadt vertreiben. Erstmalig haben wir im Oktober 1996 dagegen protestiert. Wir, Mitarbeiter und Verkäufer von Hinz&Kunzt, setzten uns auf den Fußboden in den Langen Mühren und bettelten – um Toleranz. Hamburgs City sollte das Wohnzimmer für alle sein und nicht nur für potenzielle Konsumenten. Viele haben sich spontan solidarisiert. In ganz Deutschland wurde die Geschichte von Hamburgs „Bettelmeile“ berühmt. Dass es bis heute in Hamburg nicht gelungen ist, flächendeckende Bettel- oder Aufenthaltsverbote durchzusetzen wie in anderen Städten, lag eindeutig an den Hamburgern. 91 Prozent waren damals nach einer repräsentativen Forsa-Umfrage dagegen, dass Obdachlose aus der Stadt vertrieben werden. Für dieses soziale Netzwerk gibt es auch in den kommenden Jahren genug zu tun!
Text: Birgit Müller
Titelblatt-Illustration: Ties Thiessen