Musikalische Nachbarschaft: Bei einem Festival auf der Elbinsel spielen Solisten, Bands und Orchester aller Stilrichtungen und aus allen Kulturen. Eines haben sie gemeinsam: Sie alle leben im Stadtteil.
(aus Hinz&Kunzt 244/Juni 2013)
Der Lehrer ist schuld. Er entdeckte gleich, als Hava zu ihm in die Schule kam, dass sie gut singen konnte. Bald singt Hava nicht nur in der Klasse vor, sie singt auch am Wochenende auf Festen, auf Hochzeiten. „Ich habe auch diese patriotischen Lieder gesungen, die die Erwachsenen damals gerne hörten, vom Krieg und der Freiheit und wie es ist, wenn man in der Fremde leben muss“, erzählt sie. „Diese Lieder waren eigentlich verboten, aber ich war ja noch ein Kind, verstand gar nicht so richtig, über was ich da sang – und so ist nie was passiert.“
Das Land, in dem der Lehrer und Havas Familie lebten, existiert heute nicht mehr. Manchmal wird es noch in geschichtlichen Rückblicken erwähnt und dann „ehemalige jugoslawische Teilrepublik Mazedonien“ genannt. Dort wiederum gehörte Hava zur albanischen Minderheit. Deren schwierige Situation änderte sich auch nicht mit der Gründung der neuen Republik Mazedonien im Jahr 1991. Und so holt ihr Vater, der schon länger in Deutschland arbeitet, die Familie nach Hamburg-Wilhelmsburg.
Mittlerweile hat Hava die Schule absolviert, sie hat Betriebswirtschaft studiert, ist als Controllerin tätig, hat ein Zweitstudium aufgenommen und freut sich darauf, bald als Handelslehrerin zu arbeiten. Konstant gelieben ist ihre Liebe zur Musik, denn sie singt nicht nur, sie spielt auch die Çifteli – ein zweisaitiges Instrument, das gezupft und traditionell von Männern gespielt wird. „Meine Brüder, die älter sind, konnten es natürlich, und ich wollte es auch können. So habe ich mir das Spielen Lied für Lied abgeguckt“, erzählt sie stolz. Denn: „Eine Sängerin, die sich selbst auf der Çifteli begleiten kann, das war schon immer etwas Besonderes.“
In Wilhelmsburg tritt sie zuerst nur vor Landsleuten auf, meist mit Begleitung. Bis man im Bürgerhaus Wilhelmsburg auf sie aufmerksam wird und sie einlädt, beim Festival „48h Wilhelmsburg“ zu spielen, das es nun seit vier Jahren gibt. Dieses Jahr ist sie wieder dabei, diesmal solo, nur Gesang und Çifteli, und sie ist ein bisschen aufgeregt, ob ihre Musik auch das deutsche Publikum fesseln wird oder die Leute die Lieder vielleicht zu langweilig finden könnten. Möglicherweise wird sie spontan ihre Schwester bitten, dazuzukommen, als zweite Stimme, das könnte für etwas mehr Abwechslung und Spannung sorgen. Aber noch weiß die Schwester nichts davon.
Hava Bekteshi wird in der „Tonne“ auftreten, einem Club mit Blick auf den Veringkanal, der eher von jungen Leuten frequentiert wird, deren Herz mehr für Indie-Rock und rauen Pop schlägt als für traditionelle albanische Volksmusik. Aber weiß man es? Genau das ist die Idee von 48h Wilhelmsburg: exakt 48 Stunden lang Musiker, Bands und Zuhörer zusammenzubringen, die sonst womöglich achtlos aneinander vorbeigehen. Oder die sich vielleicht interessiert beobachten – und den einen, entscheidenden Schritt aufeinander zu nicht wagen.
„Wir möchten die Vielfältigkeit des Stadtteils zeigen“
Einzige Bedingung fürs Mitmachen: Die Musiker müssen in Wilhelmsburg oder auf der Veddel wohnen oder arbeiten. Dabei werden die Orte zum Auftreten genutzt, die auch sonst das ganze Jahr über da sind: die Kneipe an der Ecke, die örtliche Bücherhalle, eines der neuen Szenecafés, ein Treppenhaus im Krankenhaus Groß-Sand. „Wir möchten die Vielfältigkeit des Stadtteils zeigen, denn Wilhelmsburg, das ist Moorwerder ganz im Süden, wo es ist wie auf dem Lande; das ist Kirchdorf-Süd, das immer noch als Hochhausgetto verschrien ist; es ist die Gegend um den Bahnhof und eben auch das Reiherstiegviertel, wo gerade der Wohnungsmarkt explodiert und wo in den nächsten Jahren eine Entwicklung durchgeboxt werden soll, für die andere Stadtteile 20 Jahre Zeit hatten“, sagt Arne Theopil vom Organisationsteam. Und auch die Veddel gehöre dazu, die immerzu vergessen werde.
Vor vier Jahren ging es los, seitdem ist 48h Wilhelmsburg kontinuierlich gewachsen: „Wir haben mit 40, 50 Musikern angefangen, dieses Jahr dürften es über 100 sein, die auftreten.“ Und nächstes Jahr? Arne Theopil atmet tief ein: „Wir werden darüber reden müssen, ob wir weiterhin jeden aufnehmen können, der auftreten will, obwohl wir genau das nicht wollen: aussortieren; entscheiden, welche Musikrichtung vertreten sein muss und welche vielleicht nicht.“
Dazugekommen nach Wilhelmsburg ist vor gut zehn Jahren der Singer- und Songwriter Ralf Junker, der sich R. J. Schlagseite nennt. Er wird in der Buchhandlung Lüdemann seine Gitarre auspacken, im einzigen Buchgeschäft in Hamburgs größtem Stadtteil, in dem alle Informationen darüber, was sich auf der Insel tut, früher oder später zusammenlaufen. Junker kam nicht ganz freiwillig auf die Insel: „Ich brauchte schnell eine Bleibe, ich hab in der Zeitung geschaut, wo was geht und wo’s günstig ist, und hab dann bald gemerkt, die Gegend ist gar nicht so übel, jedenfalls besser als ihr Ruf.“
„Bis es hier so überlaufen ist wie in der Schanze oder auf St. Pauli, bin ich alt und grau.“
Er erinnert sich noch gut daran, wie schwer es anfangs war, irgendwo gute Musik zu hören: „Damals gab es nur die Honigfabrik und die normalen Kneipen, da lief dann Radio Hamburg, und nur wenn du Glück hattest, hatten die Marius Müller-Westernhagen in der Musikbox, sonst gab es deutsche Schlager mit Techno-Beat.“ Heute gäbe es etliche Orte, an denen regelmäßig Livekonzerte stattfänden: die „Soulkitchenhalle“, die „Deichdiele“ und die „Tonne“. Seitdem sei Wilhelmsburg so seltsam angesagt, aber das mindere seine Begeisterung für den Stadtteil nicht: „Es ist noch immer toll hier, du gehst fünf Minuten und stehst am Wasser, und bis es hier so überlaufen ist wie in der Schanze oder auf St. Pauli, bin ich alt und grau.“
Dennoch merkt er gerade als Musiker, wie sich Wilhelmsburg verändert, dass er plötzlich auf Konzerten oder Partys steht, wo er nur noch die Hälfte der Leute kennt: „Die Szene ist zu groß geworden, um wie früher jeden zu kennen.“ Ob der Zusammenhalt unter den örtlichen Künstlern, die bisherige Akzeptanz und Toleranz noch lange so bleiben werden? Er stellt eine Rechnung auf: „Wenn du unter 10.000 Leuten 50 Freaks hast, dann sind das die einzigen 50 Freaks, und die finden sich zusammen, und alle können alles Mögliche nebeneinander machen. Wenn es aber 100 Freaks sind, teilen die sich in zwei Mal 50 auf und haben plötzlich das Bedürfnis, sich voneinander abzugrenzen.“
Noch ganz geschlossen ist die Musikszene, in der sich Taner Sen bewegt: Er spielt auf dem E-Piano bulgarische Lieder zwischen Folklore und Pop, schnelle, manchmal etwas hektisch ineinanderfließende Melodien, wie sie in Bulgarien im Fernsehen und Radio rund um die Uhr laufen; spielt sie in einem Wilhelmsburger Club, in dem überwiegend Bulgaren sind, auf Hochzeiten, in ganz Hamburg. Doch nun wird er mit Freunden und Kollegen auf dem Stübenplatz auftreten, zentraler geht es kaum. Und außerdem stehen hier morgens die bulgarischen Tagelöhner Schlange; warten, dass sie für ein paar Euros die schwere und schmutzige Arbeit erledigen können, die sonst niemand machen will. Vielleicht wird, wenn Taner Sen und sein Orchester spielen, so wenigstens für kurze Zeit deutlich, dass die Bulgaren nicht nur ihre Arbeits- und Tatkraft mitbringen, sondern auch ihre Kultur.
„Mal sehen, wer kommt und ob es den Leuten überhaupt gefällt, was wir spielen“
Dass die Menschen Kontakt suchen, sich Kulturen bereichern können, durfte er in Wilhelmsburg schon erfahren: Hier hat er, der in Bulgarien zur türkischen Minderheit gehörte, plötzlich Zuhörer, die sich türkischsprachige Lieder wünschen. Das war bei ihm zu Hause eher selten der Fall. Ob er eines Tages auch deutsche Musik spielen wird? „Mal sehen, wer kommt und ob es den Leuten überhaupt gefällt, was wir spielen“, sagt er vorsichtig.
Vor drei Jahren kam er aus einem Dorf nahe der nordbulgarischen Stadt Russe nach Wilhelmsburg; nicht weil er wollte, sondern weil er daheim keinerlei Perspektive sah. Mütterlicherseits stammt er aus einer musikalischen Familie, alle haben immer irgendwie Musik gemacht, ohne daran zu denken, auch eine musikalische Ausbildung anzustreben. Mittlerweile lebt er auf der Veddel. Also, dass es hier supertoll ist, wie so viele erzählen, das kann er nicht sagen: „Es ist ganz okay“, ist sein Kommentar. Denn er vermisst das Landleben, vermisst sein Dorf, die Felder, die Gärten, die sich an die Häuser anschlossen und die Tiere, mit denen sie lebten. „Ja, manchmal“, sagt er, „manchmal erzählen die Lieder, die ich spiele, auch davon.“
Ortswechsel. Es geht zum Abschluss nach Kirchdorf, ins Heimatmuseum Wilhelmsburg. Es erzählt von den Tagen, als die unterschiedlichen Elbinseln noch nicht eingedeicht waren, als die Menschen von der Landwirtschaft lebten, bis mit der Industrialisierung nach und nach Tausende meist polnischer Arbeiter an die Elbe kamen, um eine Zukunft zu finden und die Wilhelmsburger Industrie entlang der Kanäle aufzubauen, wie etwa die frühere Zinnhütte. Hier im Museum wird Jantje Egermann auftreten, sie wird „graubunte“ Lieder spielen, wie sie ihre Songs nennt. Sie spielt dazu Gitarre und Geige, sie spielt auch noch in einer Band namens „Sonic Wind“, und die wiederum tritt auf dem Parkdeck an der S-Bahn-Station Veddel auf – auch so ein Ort, von dem niemand vermutet, dass man hier ein Konzert geben könnte. Und dann ist sie auch noch Kunst- und Musiklehrerin, betreut am Kirchdorfer Helmut-Schmidt-Gymnasium einen Schulchor, aber den schickt sie in diesem Jahr nicht auf die Bühne, der war in den letzten Monaten immer wieder unterwegs und braucht mal eine Pause: „Auf der Bühne stehen, ein Liedchen singen, dass das funktioniert, wissen die Schüler mittlerweile.“
So hat sie sich eine neue Aufgabe ausgedacht: Die Schüler sollen in Zweier- oder Dreiergruppen das Festival besuchen – als Reporter. Sie sollen sich eine Band aussuchen, die sie interessiert, diese dann befragen und auch das Publikum um Statements bitten. „Es findet doch alles in der Nachbarschaft statt, die Schüler brauchen nur vor die Haustür zu treten und schon werden sie ein Konzert erleben können.“
Und sie muss jetzt noch mal etwas zur Internationalen Bauausstellung (IBA) und zur Internationalen Gartenschau (IGS) sagen, die derzeit den Stadtteil so massiv in die Schlagzeilen bringen: „Im Gegensatz zu dem, was ich an Programmen und Veranstaltungen von der IBA und der IGS erlebe, geht man bei 48h Wilhelmsburg nicht über die Köpfe der Menschen hinweg. Hier werden nicht für viel Geld irgendwelche Künstler herangekarrt, sondern das Festival lebt von den Menschen, die hier wohnen. So ist es ein Festival von der Insel für die Insel.“
Text: Frank Keil
Foto: Mauricio Bustamante