„Bloßes Wegsperren ist gefährlich!“

Hamburger Appell an Justizsenator Roger Kusch: Weitere Strafvollzugsexperten fordern den Erhalt des offenen Vollzugs und der Sozialtherapie

(aus Hinz&Kunzt 147/Mai 2005)

Noch wäre es nicht zu spät: Die Sozialtherapeutischen Anstalten in Hamburg könnten noch an Ort und Stelle erhalten werden. Der offene Vollzug könnte wieder ausgedehnt werden. Hamburgs Knäste könnten dezentraler bleiben, statt sie alle zu Großgefängnissen zusammenzufassen. Und vielleicht könnten – mit dem nötigen Fingerspitzengefühl – die Mitarbeiter wieder mehr ins Boot geholt werden. Aber leider prallt die Kritik der 16 Strafvollzugsexperten, die sich in der April-Ausgabe mit dem Hamburger Appell an Roger Kusch richteten, an diesem ab. Der Justizsenator hüllt sich in Schweigen. Jedoch stellte Behördensprecher Ingo Wolfram eine Stellungnahme für die Juni-Ausgabe in Aussicht. Indessen haben sich zahlreiche Experten aus Hamburg und dem Bundesgebiet dem Hamburger Appell angeschlossen.

Prof. Dr. Michael Walter, Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät und Direktor des Instituts für Kriminologie, Universität Köln, Vorsitzender des Landespräventionsrates in NRW: Es gibt Ausnahmesituationen, in denen für Wissenschaftler geradezu die Verpflichtung besteht, sich zu Worte zu melden und auch die Öffentlichkeit zu alarmieren. Eine derartige Lage haben Sie, Herr Senator Kusch, herbeigeführt. Mit der Schließung und Verlagerung der Sozialtherapeutischen Anstalten und des Übergangsvollzuges wird eine empirisch fundierte und aus konkreter Erfahrung heraus entwickelte Kriminalpolitik, die weithin große Anerkennung gefunden und internationales Niveau erreicht hat, unwiderruflich zerstört. Ein solches Handeln ist nicht zu verantworten.

Dipl. Soz. Maria Nini, Opferhilfe Hamburg: Mein jahrelanges Engagement für Menschen, die Opfer geworden sind, hat mir gezeigt, dass ohne wirksame Resozialisierungsanstrengungen im Strafvollzug Maßnahmen des Opferschutzes nur unzureichendes Flickwerk bleiben. Straftaten sind Ausdruck sozialer Konflikte. Verwahrvollzug kann diese – bestenfalls – nur temporär unterdrücken. Sicherheit für reale und potenzielle Opfer erreichen zu wollen unter Verzicht auf sozialtherapeutische Arbeit mit Tätern, ist illusorisch und gefährlich.


Prof. Dr. med. Friedrich Specht, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Göttingen. Seit 1972 Fachberater für Sozialtherapie in Niedersachsen:
Die niedersächsischen Erfahrungen zeigen, dass die Einrichtung sozialtherapeutischer Abteilungen in anderen Vollzugsanstalten erhebliche Investitionen notwendig macht, wenn die Wirksamkeit erhalten bleiben soll. Es ist zu befürchten, dass diese Investitionen bei den Kalkulationen nicht berücksichtigt worden sind. Ob dies nun aus Ahnungslosigkeit oder mit Absicht geschehen ist, bleibt sich im Ergebnis gleich: Es wird eine Kostenreduktion vorgetäuscht, die nicht erreicht werden kann. Schlimmer wäre es, wenn entscheidende Einbußen der Qualität wissentlich in Kauf genommen werden. Das würde bedeuten, dass der Schutz der Allgemeinheit vor Wiederholung gefährlicher Straftaten vorsätzlich reduziert und vorsätzlich den Absichten des Gesetzgebers zuwider gehandelt wird.


Prof. Dr. Rudolf Egg, Direktor der Kriminologischen Zentralstelle, Vorsitzender des Arbeitskreises der Sozialtherapeutischen Einrichtungen im Justizvollzug:
Die Sozialtherapeutischen Anstalten Bergedorf und Altengamme genießen einen ausgezeichneten Ruf und arbeiten professionell auf hohem Niveau. Es kann nur ein Kopfschütteln bei allen Fachleuten hervorrufen, wenn Hamburg aus selbstständigen Einheiten abhängige Abteilungen macht, die erfahrungsgemäß mit behandlungswidrigen Verhältnissen zu kämpfen haben.


Anke Pörksen, stellvertretende Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen (ASJ):
Bloßes Wegsperren und Verwahren ist kurzsichtig und gefährlich. Im Verwahrvollzug ist noch keiner besser geworden, die vermeintliche Sicherheit für die Zeit der Haft ist eine trügerische, ihr Preis ist hoch, zu hoch für die Inhaftierten und für ihre zukünftigen Opfer. Wenn wir von Strafvollzug reden, müssen wir von Resozialisierung reden. Resozialisierung bedeutet Opferschutz von morgen!

Dr. jur. K. P. Rotthaus, Präsident des Justizamts Rheinland i.R., erster Leiter der Sozialtherapeutischen Anstalt Gelsenkirchen: Eine therapeutische Gemeinschaft kann nur in überschaubaren Anstalten gedeihen, wo jeder jeden kennt. Eine sozialtherapeutische Abteilung in einer Anstalt, die vorrangig anderen Vollzugsformen dient, kann die Einflüsse des andersartigen Umfeldes, des Knasts, nicht ausschalten.

Wolfgang Rose, Landesbezirksleiter ver.di Hamburg: Der Rückzug aus Integration und Sozialtherapie ist inhuman, weil er gegenüber Straftätern eine Lebensperspektive in Freiheit einschränkt, unsozial, weil weniger Resozialisierung potenzielle Opfer gefährdet, volkswirtschaftlich falsch, weil er langfristig hohe Folgekosten verursacht, und gesetzlich fragwürdig, weil Resozialisierung ein verbindlicher Gesetzesauftrag ist.

Prof. Dr. Johannes Feest, Prof. für Strafverfolgung, Strafvollzug, Strafrecht an der Universität Bremen: Der Gefangene hat einen grundrechtlichen Anspruch auf Resozialisierung, dem die sozialstaatliche Verpflichtung der Vollzugsbehörde entspricht, die zur Erreichung des Vollzugszieles erforderlichen personellen und sächlichen Mittel zur Verfügung zu stellen.


Prof. Dr. Bernhard Haffke, Lehrstuhl für Straf- und Strafprozessrecht, Universität Passau:
Bloßes Einsperren schafft erst die Probleme, deren Lösung versprochen wird: Das Risiko für potenzielle Opfer nimmt in einer zunehmend weniger freiheitlichen und sozialstaatlich verpflichteten Gesellschaft zu.


Volkert Ruhe, Geschäftsführer des Vereins Gefangene helfen Jugendlichen:
Als Exhäftling – vor drei Jahren entlassen – bin ich noch in den Genuss des offenen Strafvollzugs gekommen. Dies hat mir nach einer achtjährigen Haftstrafe die Möglichkeit gegeben, mich auf das Leben in Freiheit vorzubereiten und danach ein straffreies Leben zu führen. Ohne diese Vorbereitung sinken die Chancen auf Integration erheblich. Es kann und darf nicht im Sinn von Politik und Bevölkerung liegen, bewährte Praktiken zu beschneiden. Die Quittung für diese Scheuklappenpolitik kommt später. Die Bürger unserer Stadt werden darunter zu leiden haben.

Maria Peter, Rechtsanwältin: Wenn der Behandlungsvollzug schon von Amts wegen aufgehoben wird – und nichts anderes geschieht hier so nach und nach –, woher sollen dann die Strafgefangenen die Zuversicht nehmen, dass es sich allemal lohnt, auf die Resozialisierung hinzuarbeiten?


Christian Maaß, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der GAL:
Strafvollzug muss mehr sein als wegschließen. Wer heute an der Therapie spart, produziert die Täter und Opfer von morgen.

Prof. Dr. Frieder Dünkel, Lehrstuhl für Kriminologie, Universität Greifswald: Die sozialtherapeutischen Einrichtungen Hamburgs hatten Vorreiter- und Vorbildfunktion für Deutschland und darüber hinaus. Wer derartige erfolgreiche Modelle beseitigen will, legt Hand an ein Stück deutsche Rechtskultur. Justizsenator Kusch wird damit selbst zum Sicherheitsrisiko!

Strafverteidiger Ernst Medecke: Jeder andere bundesdeutsche Justizminister oder -senator wäre für eine derartig verfehlte und verkorkste Strafvollzugspolitik und -praxis von seinem Regierungschef längst entlassen worden.

Petra U. Dorbandt, Anstaltsbeirätin der Sozialtherapeutischen Anstalt in Bergedorf: Sexualstraftäter sind meiner Meinung nach eine besondere Gruppe Straftäter, die sich von anderen Straftätern unterscheiden. Sie bedürfen, sollen sie straffrei bleiben und die Allgemeinheit nicht gefährden, unbedingt einer besonderen Behandlung. Diese besondere Behandlung kann nur in einer gesonderten Einrichtung, wie es z. B. die Bergedorfer und Neuengammer sozialtherapeutischen Anstalten sind, geleistet werden, auf keinen Fall in einer Anstalt wie Fuhlsbüttel, die ein völlig anderes Vollzugskonzept hat. Ich vertraue außerdem auf die Urteile vieler namhafter Experten und bin erstaunt darüber, wie der Senat deren Erkenntnisse so massiv ignorieren kann.

Kathi Petras, langjährige Forschungsassistentin bei Projekten im Hamburger Strafvollzug: Verwahrvollzug blockiert die Resozialisierung. Ein straffreies Leben kann nur in freier Umgebung trainiert werden, in der die Entlassenen später zurechtkommen müssen.

Dr. Till Steffen, justizpolitischer Sprecher der GAL-Politik: Die Politik von Roger Kusch ist ein Anschlag auf den Opferschutz. Sie führt nicht zu mehr, sondern zu weniger Sicherheit für die Hamburger Bevölkerung.

Dirk Helias, Regierungsdirektor A.D.: Dem Hamburger Appell schließe ich mich aus Überzeugung an. Von 1989 bis zur Rohbaufertig-stellung im Jahre 2001 habe ich im Auftrag von Senat und Bürgerschaft die offene Justizvollzugsanstalt Billwerder mit 384 Plätzen als Projekt-beauftragter der Strafvollzugsamts Hamburg geplant.

Nach fast 30 Jahren Erfahrung mit dem Strafvollzugsgesetz können nur Ignoranten, Einfältige und Menschenverachter auf die Idee kommen, offene und gar sozialtherapeutische Vollzugseinrichtungen zu schließen und diese in geschlossenen Anstalten unterzubringen. Der offensichtlich keiner Beratung zugänglich eJustizsenator Dr. Kusch schickt sich – im Alleingang – an, den offenen Vollzug für Männer auf die JVA Glasmoor zu beschränken, was eine Reuzierung dieser Vollzugsform auf etwa 10 Prozent bedeutet. Er dürfte damit das Vollzugsniveau von Weißrussland erreicht haben… Wahrlich kein Vorbild für modernen Behandslungsvollzug!

Mit der Schließung der sozialtherapeutischen Anstalten Bergedorf und Altengamme und der Unterbringung dieser Klientel in einer Teilanstalt Fuhlsbüttels oder Billwerders würde Dr. Kusch nicht nur einen Etikettenschwindel begehen, sondern diese Entscheidung wäre klar rechtswidrig. Das Strafvollzugsgesetz sieht für besonders behandlungsbedürftige Straftäter, insbesondere Sexualstraftäter, zum Schutze der Allgemeinheit vor, dass diese Täter in eigenen, besonders mit Fachpersonal ausgestatteten kleinen, überschaubaren Einrichtunen des Vollzuges untergebracht und dort besonders behandelt werden. Sozialtherapeutische Abteilungen in Großanstalten werden eine vergleichbare individuelle Behandlung nicht leisten können.

Die Fachwelt in Deutschland schüttelt den Kopf über die Alleingänge des Dr. Kusch, für den Sicherheit im Vollzug offensichtlich nur über hohe Außenmauern und Gitter definiert ist.

Traurig ist dass der Justizsenator all seine für den Vollzug in Hamburg schädlichen und für die Allgemeinheit auf Dauer verhängnisvollen Entscheidungen treffen kann, ohne im Senat „gebremst“ zu werden.

Weitere Unterzeichner:
Charlotte Andres, Tim Angerer, Felix Barbirz, Christiane Behm, Uta Benszus, Wolfgang Berendsohn, E. Blum, Prof. Dr. Klaus Boers, Rechtsanwalt Elmar Böhm, Angela Bolle, Prof. Dr. Lorenz Böllinger, Universität Bremen; Michael Bollow, H. Borstelmann, Alex Bosche, Regina Breutigam, A. Bries, Beratungspraxis Der neue Mann, Werner Diedrichs, A.-K. Drathschmidt, Claudia Dreyer, Sozialpädagogin Eike Elbracht, Susanne Engel, Hannelore Evard, Hans-Dieter Ewe, Sebastian Faust , D. Fischer, Barbara Franke, Uwe Fritz, J. Fritz, Prof. Dr. Heinz Giehring, Universität Hamburg; Margrit Glogau-Urban, Jeanette Goslar, Dr. René Gralla, Dr. Hans-Jürgen Grambow, Rechtsanwältin Katrin Grebel, Rosemarie Günther, Birgit Hamann, Karin Hannemann, Hella Heering-Sick, Rainer Hölzke, Ingrid Horstkotte, Klaus Hüser, Tanja Jeney, Norbert John, Dr. Wolfgang John, Prof. Dr. Gabriele Kawamura-Reindl, Fachhochschule Nürnberg, Mitherausgeberin der Zeitschrift Neue Kriminalpolitik; Nadine Kehden, H. Günter Klempau, Friederike Klose, K.-H. Kohlepp, D. Kohlepp, Rechtsanwalt Reiner Köhnke, B. Koops, J. Koops, Rechtsanwalt Martin Kowalske, Rechtsanwalt Alexander Kratzin, Christiane Kroog, Ch. Kusnik, Petra Mahling, U. Markwardt, O. Markwardt, Melanie Marquard, A. Maruhn, Harald Maruhn, Rechtsanwältin Martina Mehrtens, Dietrich Mett, Oberlandesgerichtspräsdident i.R.; Mark Mewes, Jens J. Meyer, Nick Meyer, Susanne Meyer, Sebastian Mietzner, S. Moka, Ulf Möker, Dr. Gerwin Moldenhauer, Holger Nessen, Dr. Frank Neubacher, Universität zu Köln; Dr. Heike Opitz, GAL-Bürgerschaftsfraktion; Gudrun Ortmann, Annegret Peters, Hans Peters, Kathi Petras, Gül Pinar, Erhard Pöppel, Jan Pörksen, Helmut Pusch, Birthe Rathmann, Wolf Dieter Reinhard, Rechtsanwalt Christoph Römmig, Pastorin Angela Rosenthal-Beyerlein, Nicola Ruske, I. Sander, Christian Schön, Rechtsanwältin Karen Schueler-Albrecht, Maria Schulze, Aleksej Schwemler, Edith Schwitters, Claudia Sieben, Dr. Till Steffen, justizpolitischer Sprecher der GAL, Sozialpädagogin Regina Stello, Ingo Straube Psychologieoberrat der JVA Bremen, S. Tanski, Hamid Tayebi, A. Tayebi, Nicola Toillié, Attila Toth, Bernd Vanselow, Rechtsanwalt Klaus-Ulrich Ventzke, Prof. Dr. Bernhard Villmow, Universität Hamburg; O. von Bar, Cornelius von Nerée, R. Wobbe, R. Wobbe, Rechtsanwältin Ines Woynar

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