Ein Überlebender

Der ehemalige Häftling Fritz Bringmann über Leiden, Widerstand und Solidarität im KZ Neuengamme

(aus Hinz&Kunzt 147/Mai 2005)

Er ist 87, und sein Lebenswerk hält ihn immer noch unter Dampf. Fritz Bringmann, ehemaliger Häftling des Konzentrationslagers Neuengamme, will die Erinnerung wach halten. Ein großes Ziel haben er und die wenigen noch lebenden Ehemaligen jetzt erreicht: Der Knast verschwindet vom KZ-Gelände.

Es ist für ihn eine Genugtuung, dass endlich das Gefängnis auf dem ehemaligen KZ-Gelände geschlossen ist. „Das haben wir als Schändung angesehen, weil auf dem Gelände die Asche von ich weiß nicht wie viel Tausend Toten ausgestreut wurde. Auf dem Friedhof will man die Ruhe der Toten nicht stören. Aber mit den toten KZ-Häftlingen hat man das nicht so gemeint“, sagt Bringmann, der heute in einem Dorf in Schleswig-Holstein lebt.

Bitter klingt er, der kleine alte Mann, der 60 Jahre lang dafür gekämpft hat, dass Neuengamme einzig und allein ein Ort des Gedenkens und der Erinnerung wird. „Ich gehe davon aus, dass ich wegen meines Widerstandes dort gewesen bin“, sagt er in aller Bescheidenheit. Gerade mal 15 Jahre war er alt, als er 1934 in Lübeck „Nieder mit Hitler“ an Häuserwände schrieb und erwischt wurde. Da hatte die Gestapo schon seine drei Brüder abgeholt. Zwei Jahre Gefängnis hat ihm das eingebracht. Die Untersuchungshaft wurde angerechnet, der Rest zur Bewährung ausgesetzt, der Haftbefehl aufgehoben. Fritz Bringmann dachte, er hätte es überstanden. „Am nächsten Morgen stand die Gestapo mit einem Schutzhaftbefehl vor der Tür.“ Was das war – eine Polizeimaßnahme, gegen die es kein Rechtsmittel gibt –, wusste er nicht.

Nach Sachsenhausen haben sie ihn gebracht, ein „Umschulungslager“ sollte das sein. Es war ein KZ. Von früh bis spät musste er schuften, das Lager aufbauen, für die vielen Häftlinge, die noch kommen sollten. 1940 verschleppten ihn SS-Leute nach Neuengamme. Auch hier mussten die Gefangenen ihren eigenen Kerker errichten. Von dort kam er zu Arbeitseinsätzen nach Osnabrück und Bremen.

Nach einem halben Jahr hätte die Schutzhaft aufgehoben werden können. Bei Fritz Bringmann dauerte sie zehn Jahre. Bis zum 17. Mai 1945, zehn Tage nach Kriegsende. Erst da ließen die Alliierten den politischen Häftling in Bremen laufen.

In einem Stift wurden die Entlassenen vorübergehend untergebracht, erinnert sich Bringmann, der lange Zeit Häftlingssanitäter im Lager gewesen war. Er erklärte sich bereit, weiter für die Kranken da zu sein, bis sie in ihre zerstörte Heimat aufbrechen konnten. Probleme gab es schon in der ersten Nacht: „Mithäftlinge hatten abends so fürstlich gegessen, dass sie morgens vollkommen kaputt waren und erbrachen.“ Alles, was mehr war als dünne Kohlsuppe und schimmeliges Brot, überforderte die fast Verhungerten. Fritz Bringmann wusste Rat: Er wandte sich wegen warmer Mittagsverpflegung an ein nahe gelegenes Krankenhaus und bat die Ärzte, mit den ehemaligen Häftlingen über die Ernährung in der ersten Zeit zu sprechen.

Endlich vorbei, aber nicht ausgestanden. Noch heute hat er das Grauen vor Augen, das Elend, die Misshandlung, die Ermordung der Mitgefangenen. Dabei war Neuengamme kein Vernichtungslager wie etwa Auschwitz. Zwei Vergasungen gab es trotzdem. Fritz Bringmann: „Während des Abendappells wird die Tür zum Bunker geöffnet, und man sieht da ineinander verkrampft die Toten liegen. Dann die Provokation, dass wir das Lied singen mussten: ‚Willkommen, frohe Sänger, seid gegrüßt, viel tausend Mal, den heutigen Tag zu ehren. Lasst uns singen, dass es laut erschallt. Tralala, tralala.‘ Diese makabre Sache – das ist unvergesslich.“

Untereinander geholfen haben sie sich. Etwa, wenn ein Mitgefangener exekutiert werden sollte. Dann haben sie ihn in der Krankenbaracke versteckt und den SS-Leuten einen gerade Gestorbenen als den Gesuchten präsentiert. Eine große Verantwortung war das für den jungen Häftlingssanitäter Bringmann. Widerstand haben er und seine Kameraden geleistet. Es gehörte zum Terrorsystem, dass die SS Gefangene einsetzte, um andere Gefangene zu quälen und zu ermorden. Fritz Bringmann hat sich widersetzt.

„Ich habe das gar nicht als etwas Besonderes gesehen“, wehrt er bescheiden ab. „Jahrelang hat man Häftlingen geholfen, hat sie aufgepäppelt und gerungen, um ihr Leben zu erhalten. Und plötzlich bekommt man den Befehl, sie mittels Injektionen zu töten… Nachdenken, das gab es da überhaupt nicht. Das war eine spontane Reaktion: Das kann und das mache ich nicht. Der SS-Mann hat mich darauf aufmerksam gemacht, das sei ein Befehl des Lagerarztes und des Standortarztes. Aber für mich war da eine Grenze. Einen Mithäftling zu töten, da hätte ich mich zu gleicher Zeit mitgetötet.“

Misshandelt wurde er dafür, aber misshandelt wurden ja alle – Bringmann zuckt mit den Schultern. Das Bewusstsein, dass ihm Unrecht geschah, habe ihn aufrecht gehalten und der eiserne Wille, dieses Unrecht zu überleben. Entkommen konnte er nicht, der Elektrozaun war unüberwindbar. Und in den Zaun gesprungen, um sich den tödlichen Stromschlag zu holen, ist er auch nicht. „Nein, ich bin nicht geflohen. Ich habe bei Misshandlungen und Tötungen anderer nie weggesehen, sondern mit einem Hassgefühl habe ich solche Szenen erlebt. Eigentlich hat mir das innere Stärke vermittelt.“

Die hat er auch weiterhin gebraucht, in der Zeit nach dem Krieg, als auf einmal in Ämtern und Behörden wieder diejenigen saßen, die zuvor treu und brutal ihrem Führer gedient hatten. Fritz Bringmann machte Jugendarbeit und leitete mehrere Jahre ein Ferienheim für ehemalige KZ-Häftlinge. Später arbeitete er in Lübeck in einem Verlag.

Innere Stärke brauchte Bringmann auch für den jahrzehntelangen Kampf, bis der blutgetränkte Boden des ehemaligen KZ Neuengamme nun nicht mehr Fußballplatz der Haftanstalt Vierlande ist. Jetzt könne er endlich zur Ruhe kommen, sagt er. Aber erst ist da noch eine Gedenkveranstaltung in Sachsenhausen. Und eine in Neuengamme. Und auch danach wird Fritz Bringmann noch gefragt sein, als einer der letzten Überlebenden des Nazi-Terrors.

Burkhard Plemper

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