Spurensuche an der Kollaustraße zwischen Siemersplatz und Nedderfeld
(aus Hinz&Kunzt 146/April 2005)
An der Kollaustraße ist unser Pfeil eingeschlagen, am rechten Straßenrand, stadtauswärts gesehen, um genau zu sein. Das ist kein unbedeutendes Detail, wie sich zeigen wird.
Ein wenig irritierend ist es schon, dass just da, wo man sich die Pfeilspitze vorstellen muss, der Matsch neben dem Pflaster etwas aufgewühlt und der Gartenzaun eingedellt ist, als hätte hier eben noch tatsächlich ein überdimensionaler Dartpfeil gesteckt. Aber das ist natürlich Quatsch. Wir glauben nicht an paranormale Phänomene oder so was. Wir glauben einfach, dass der demolierte Zaun nichts mit unserem Dartpfeilwurf auf einen Stadtplan zu tun haben kann. Wir sind schließlich keine Voodoozauberer.
Hinter dem Zaun sitzt Cisse Mohammed am Fenster und lässt sich die zaghaften Wintersonnenstrahlen auf den nackten Oberkörper scheinen. Er genießt demonstrativ die Wärme, auch wenn sie vor allem der Heizung zu verdanken ist. Mitten im Niemandsland zwischen Siemersplatz und Nedderfeld hat sich das brave Wohnhaus an die große Straße vorgewagt. Ein bisschen verloren steht es da. Merkwürdig: Von der Gras-narbe bis zum ersten Badezimmerfenster wächst ein knallbuntes Graffito. Irgendwie gehören Graffiti auf Betonwände in Betonburgen, nicht auf Ziegelsteine in Vorgärten, oder?
Als wir winken, kommt Cisse heraus. 18 Jahre ist er alt, sieht aber jünger aus. Daran ändert auch der ins Stirnhaar rasierte Gangsta-Cut nichts. Er kommt aus Guinea und wohnt seit zwei Jahren an der Kollaustraße. „Besser als vorher“ sei es da, „viel ruhiger“. Bitte? „Ach, die Autos. Die merke ich gar nicht.“ Tag für Tag wälzt sich die Blechlawine in die City und zurück. Aber Cisse ist zufrieden mit seinen 40 Quadrat-metern Deutschland. Zumal es im Sommer doppelt so viele sind: „Dann sitze ich mit meinen ganzen Freunden im Garten. Wir grillen was oder so.“ Und tun so, als gebe es keine Autos. Cisse muss jetzt zum Fußballtraining. Manchmal träumt er von einer Profikarriere – „wie alle“, sagt er achselzuckend.
Wir machen uns an das Abenteuer, die Rennstrecke zu überqueren. Ein Schritt vor, zwei zurück. Lässt der Fahrzeugstrom einen Au-genblick nach, kommen schon die Abbieger um die Ecke gekachelt. Perfektes Timing ist Pflicht. Und Teamwork: Ich gucke links, du rechts, Kommandos laut schreien. Verharren dort, wo man sich einen Mittelstreifen wün-schen würde. Mittellinie also, und besser den Hintern einziehen. Dann, attackemäßig, die letzten drei Spuren. Geschafft! Aber gelohnt hat es sich nicht. Wir finden nur einen Her-steller von Heizungsverkleidungen in Knall-farben und einen Autohändler, der beim Wort „Zeitung“ ganz nervös wird, weil der Chef ihm das Sprechen verboten hat. Uns zieht es zurück auf die freundliche Seite der Kollaustraße.
Wir nehmen diesmal lieber die Ampel am Siemersplatz, und das hat nicht nur für unseren Adrenalinspiegel sein Gutes: Wir kommen direkt auf ein Geschäft zu, das das Zeug zum Kultladen hat. „Leuchten und Leuchtmittel Seidler“ steht nüchtern draußen dran. Man kann nur ah-nen, dass es ein Paradies ist. Zumindest für Lampenfetischisten. Ein Wald aus hunderten, ja tausenden Lampen steht, hängt, liegt und lehnt hier dicht an dicht, von der billigen Klemmlampe bis zum edlen italie-nischen Designerstück, dazwischen nur Gänge, die keinen Gegenver-kehr zulassen. Würde jemand behaupten, hier seien alle derzeit in Deutschland verfügbaren Lampen vorrätig – wir wagten nicht zu wider-sprechen. Heimlich bewundern wir die beiden Verkäufer dafür, dass sie den Überblick behalten; von der einzelnen Glühbirne bis zur komplet-ten Messebeleuchtung alles zutage fördern.
„Seidler“ ist einer jener kleinen Mittelständler, denen die Billiger-Gesellschaft zu schaffen macht. Sagen würde das hier keiner, aber der Laden positioniert sich mit einem Spagat: „Reduziert“ und „Sonderangebote“ verheißen nicht mehr ganz neue Aufkleber an Schaufenstern, die sich wie die Rückansicht einer Lagerhalle ausnehmen. „Das sind Auslaufmodelle, aber auch Ware, die wir speziell dafür einkaufen“, sagt Verkäufer Hans-Jürgen von Leesen. Andererseits versucht sich der Chef mit geradezu rührenden, handgeschriebenen Schildern in Konsumentenpädagogik: „Wir setzen auf Qualität zum günstigen Preis“ steht da zu lesen. Zur Abschreckung ist ein vergilbter Ausschnitt mit Billig-Leuchten aus einem Werbeblättchen aufgeklebt, darauf mit dickem schwarzen Filzer die dräuende Frage: „Hersteller??“
Die Ladenzeile hat schon bessere Tage gese-hen. Die Eisdiele hat dichtgemacht, bald soll eine Apotheke einziehen. Wir begeben uns in die Katakomben, anderthalb Meter unterhalb der Fahrbahn. Weiss Karimzada fegt die Treppe. „Hier ist ganz schön was los – Motorradunfälle, Rettungshubschrauber“, sagt er, „die Leute rasen, weil es immer geradeaus geht.“ Gerade hat er sein Reich mit dem verheißungsvollen Namen DreamNet geöffnet. Der erste Kunde ist schon da. „Der hat sich gleich eine Tageskarte geholt“, sagt Karimzada, „weil das neue Spiel War Craft da ist.“ Ein paar Leute kommen, um in der Mittagspause in Ruhe ihre E-Mails abzurufen, ohne dass der Chef mitliest. So richtig geht der Betrieb erst los, als Schulschluss ist. Jetzt fläzen sich im Schummerlicht Jungen hinter die Bild-schirme, denen der Hosenboden zwischen den Kniekehlen hängt und die Wollmützen tief über die Ohren gehen. Dazu versuchen sie, ein möglichst verwegenes Gesicht aufzusetzen. Es ist erst ein paar Jahre her, dass Karimzada einer von ihnen war. Der 23 Jahre alte gelernte Konstruktionsmechaniker sagt: „Ich habe mir einen Traum erfüllt, als ich den Laden übernommen habe.“
Der Jungunternehmer mit dem gewinnenden Lächeln hat große Pläne: Vor vier Wochen hat er im Hinterzimmer einen Pizzaservice gestartet, und bald soll man die (gewaltigen!) Pizzen auch während der Online-Sitzung einschieben können, neben leuchtenden Lavasteinen und Zim-merpalmen. In der Vitrine mit den aktuellsten Computerspielen steht ganz oben ein Koranvers, in Messingblech getrieben. Ein Geschenk von der Mama, die aus Afghanistan stammt. Es soll Glück bringen. Wir wünschen es ihm.