Der Hinz&Kunzt-Rundgang „Nebenschauplätze“ führt durch die City an Orte, die in keinem Reiseführer stehen – und die zu Hamburg trotzdem genauso gehören wie der Michel und der Dom.
Erstmal klönen Harald, Torsten, Peter und Uwe ein bisschen mit ihren Gästen. Aber selbst das ist alles andere als Smalltalk: Denn die vier Hinz&Kunzt-Stadtführer zeigen den Rundgangteilnehmern nicht nur Hamburgs Nebenschauplätze – Orte in der Stadt, an denen sich Obdachlosigkeit und Armut abspielen. Sie kennen diese Plätze aus ihrem eigenen Leben. Harald, Peter und Uwe waren jahrelang obdachlos, Torsten ist es noch. Und sie reden ganz offen darüber.
„Ja, hier geht es auch um meine eigene Geschichte“, sagt Harald. Schonungslos mit sich selbst und seiner Vergangenheit berichtet er, wie er in den 90er-Jahren auf der Straße landete und zwölf Jahre lang als Drogensüchtiger „Platte“ machte, also auf der Straße schlief. Aber Haralds Geschichte hat ein kleines Happy End: Der 47-Jährige lebt jetzt wieder in einer Wohnung – und nimmt keine Drogen mehr. Seit Sommer 2012 ist er außerdem einer der Hinz&Kunzt-Stadtführer. Besuchergruppen zu den Stationen seiner eigenen Obdachlosigkeit zu bringen, „das fiel mir anfangs ganz schön schwer“.
Das Verlangen nach dem Rausch ist manchmal noch da.
Beim Drob Inn, einer Beratungsstelle mit einem Raum, in dem Drogen konsumiert werden dürfen, hing er früher selbst oft mit anderen Süchtigen herum. Wenn er dort vorbei kommt, spürt er manchmal heute noch das Verlangen nach einem Rausch. Dann nichts zu kaufen und zu nehmen – „das ist hart“. Allerdings: „Für mich ist das auch eine Art Therapie, wenn ich da vorbei gehe, stark bleibe, und die Leute vor Drogen warnen kann.“
Haralds Geschichte klingt krass. Aber: „Niemand soll sagen, dass ihm das nicht passieren kann!“, findet Stadtführer Torsten. Der 49-Jährige ist auch süchtig, nicht nach Drogen, aber er zockt – und das schon lange Zeit. 1989 begann seine Spielsucht, damals arbeitete er als Hochseefischer. In Montevideo bekommt er für einen Landgang 100 Mark Taschengeld – und macht in einem Casino 400 Mark draus. „Da war ich auf dem Schiff natürlich der Held!“ Ein Gefühl, das er nicht mehr missen will. Zurück in Hamburg zockt er nun regelmäßig. „Ich dachte, ich bin schlauer als alle anderen. Dabei war ich spielsüchtig, ohne es zu merken.“ Die Sucht beherrscht sein Leben jahrelang. Er versucht, sie zu besiegen, flieht bis nach Neuseeland, um ein neues Leben zu beginnen – und scheitert.
Als er 2002 nach Hamburg zurückkehrt, „hatte ich gar nichts mehr: keine Arbeit, keine Wohnung, kein Konto“, sagt Torsten. Anfangs schläft er meistens in Parks, mittlerweile sucht er sich auch häufig ein leerstehendes Haus zum Übernachten. Bis heute hat er keinen festen Wohnsitz. Und nach wie vor zockt er in Spielhallen und an Automaten. „Ich habe gelernt, trotz der Sucht ein halbwegs zufriedenes Leben zu führen“, sagt er Doch er weiß: Für immer kann das nicht so bleiben. „Langfristig ist das ein Riesenproblem“, sagt er und meint damit zum Beispiel, dass er keine Krankenversicherung hat. „Was ist, wenn ich einmal ernsthaft krank werde?“
Liebe und Geborgenheit gab es nicht.
So ruhig und selbstkritisch wie Torsten erzählt auch Peter seine Geschichte, sucht dabei nie die Schuld bei den Anderen. Nach dem frühen Tod seiner Mutter wächst er im Heim auf, haut dort mehrfach ab: „Liebe und familiäre Geborgenheit gab es nicht.“ Er schafft zwar den Hauptschulabschluss und eine Lehre als Maler, will dann aber „was von der Welt sehen“, fährt mit Kumpels nach Spanien und gerät dort ins kriminelle Milieu. Mit Haschisch aus Marokko will er in Deutschland das schnelle Geld machen, doch die Polizei erwischt ihn. Ein spanisches Gericht verurteilt ihn zu zwölfeinhalb Jahren Gefängnis – ein Schock für den damals 19-Jährigen. 1987 wird er wegen einer Generalamnestie vorzeitig entlassen und scheint in Deutschland schnell gut Fuß zu fassen: Er findet einen Job, heiratet, sein erster Sohn wird geboren, 1990 folgen Zwillinge.
Aber Peter ist überfordert, wird krank, verlässt später seine Familie. Auf einer Party nimmt er schließlich zum ersten Mal Heroin. „Da ging so eine Folie mit weißem Pulver rum und alle haben probiert“, sagt er. „Ich natürlich auch. Vollkommen naiv war ich damals.“ Peter wird süchtig, kommt „immer tiefer rein in den Sumpf“, lügt und stiehlt, um an Geld zu kommen. Wegen Beschaffungskriminalität landet er im Gefängnis, anschließend lebt er auf der Straße und in Notunterkünften. Erst als er eines Tages zwei Säufer beobachtet, die sich prügeln, zieht er die Notbremse: „Der eine schlug den anderen mit dem Kopf an die Wand und ich sah das Gehirn die Wand runterlaufen. So wollte ich nicht enden.“ Er entgiftet in einer Entzugsklinik, wird mit einem Ersatzstoff substituiert und kommt mittlerweile sogar ohne diesen klar. Das Wichtigste für den 51-Jährigen in seinem neuen Leben? „Dass ich wieder eine Perspektive habe. Und Pläne schmieden kann – für die Zukunft.“
Auch Uwe denkt jetzt wieder gerne an die Zukunft – und spricht gefasst über seine Vergangenheit. Schien ja auch erst alles klasse zu laufen: Abi, zwei abgeschlossene Berufsausbildungen, dann der Sprung in die Selbständigkeit mit einer eigenen Firma im Elektrometallbau, guter Verdienst. 11 Jahre ging das so, dann zieht er sich bei einem schweren Arbeitsunfall einen Halswirbelbruch zu. OP und langwierige Reha folgen, bald wird klar, dass Uwe nicht mehr in seinem Beruf arbeiten kann. „Ich habe bis heute eine Titanplatte im Körper.“
Obdachlose sind Leute ohne Wohnung – und keine „Penner“
Die Liebe zu einer jungen Frau aus Norwegen hält ihn aufrecht, er wandert gemeinsam mit ihr in ihre Heimat aus, jobbt dort auf einem Versorgerschiff für Bohrinseln. Als seine Freundin schwanger wird, scheint das Glück perfekt. Doch im fünften Schwangerschaftsmonat stirbt sie an Bauchspeicheldrüsenkrebs. „Da gingen bei mir alle Lichter aus.“ Uwe will nur noch weg, vergessen, verdrängen. Er rafft sein Geld zusammen, kehrt nach Hamburg zurück und „verfeiert“ hier innerhalb von zwei Jahren „die ganze Kohle“. Als das Geld alle ist, schläft er in einem Zelt an der Alster. Im Winter sucht er im Pik As Schutz vor der Kälte. Über einen Bekannten dort erfährt er von Hinz&Kunzt, seit kurzem gehört der 50-Jährige zum Team der Stadtführer. „Ich habe mich hochgearbeitet“, sagt er und grinst.
Wer sich von Harald, Torsten, Peter oder Uwe an die Hamburger Nebenschauplätze führen lässt, lernt die Hansestadt ganz anderes kennen – und wirft vielleicht das ein oder andere Vorurteil über Bord. Das hoffen zumindest die Hinz&Kunzt-Stadtführer. „Die große Menge der Obdachlosen ist schließlich um ein normales Leben bemüht“, sagt Torsten. Das will er bei den Touren rüberbringen. Genau wie Harald: „Nach den Stadtrundgängen sehen die Leute Obdachlose in einem anderen Licht“, glaubt er. „Aus ‚Pennern’ werden dann einfach Leute, die keine Wohnung haben.“
Text: BELA, BEB, MAL
Fotos: Mauricio Bustamante
Hamburger Nebenschauplätze während des Kirchentags: , Stadtrundgänge mit Hinz&Künztlern, am 2., 3. Und 4. Mai, Start am Jungfernstieg vom Stand des Diakonischen Werkes jeweils 10.30 Uhr, 11.30 Uhr, 13.30 Uhr, 14.30 Uhr, 16.30 Uhr – 18 Uhr, am Jungfernstieg. Kostenlos, keine Anmeldung erforderlich.