(aus Hinz&Kunzt 146/April 2005)
Rettung oder Ausverkauf? Die einzigartige Sammlung des St. Pauli Museums wartet auf dem platten Land auf eine Perspektive, aber die Zeit drängt
An der Kreisstraße 102 weist eine hölzer-ne Pippi-Langstrumpf-Figur den Weg.
Günter Zint schiebt eine zentnerschwere Schubkarre voller Birkenscheite durch den Morast. „Das ist die neue Armut“, ruft er,
„ich muss schon mit Holz heizen.“ Es klingt scherzhaft, aber der Mann macht sich ernst-haft Sorgen. Wie immer geht es dabei weni-ger um ihn selbst als um sein Lebenswerk. „St. Pauli Museum“ steht auf einem blass-blauen Schild, das neben dem Eingang des 150 Jahre alten Fachwerkhauses hängt. Was hier, in einem 200-Seelen-Dorf im niedersächsischen Teufelsmoor, wie ein schrulliges Souvenir wirkt, ist in Wahrheit hochoffiziell: Das St. Pauli Museum ist im Exil.
Nach einer Odyssee durch den Stadtteil ist die einzigartige Sammlung auf dem Familienanwesen von Fotograf Günter Zint gestrandet – Endstation Kuhdorf. Zints Welt: eine wilde Mischung aus Büro, Lager, Archiv, Museum und Hafenbasar. Eine geschnitzte Giraffe überragt die Glasvitrine, in der sich eine Gummi-Mini-Sklavin an ihrer Kette windet. Überall stehen riesige Archivschränke, obendrauf Fotos, Bücher, DVDs, Zeitschriften; dazwischen Computer, Monitore, Drucker, Scanner – ein undurchschaubares, analog-digitales Netzwerk, dessen Schaltzentrale irgendwo im Kopf von Günter Zint liegen muss. Von hier aus versendet er Druckvorlagen in alle Welt. „Aber heute geht nicht mehr viel“, klagt der 63-Jährige, „Bill Gates hat das Geschäft versaut mit seinem Online-Archiv Corbis.“ Zigmillionen Bilder, per Mausklick – wer sucht da noch Fotos von Günter Zint, dem Stadtteilhistoriker, Starclub-Hausfotografen, Beatles-Freund, Verleger, Fotoreporter, Sammler und Chronisten der linken Bewegung, von der Apo bis zur Roten Flora? Seine Agentur Pan-Foto hat zuletzt nur noch Miese gemacht und kann das St. Pauli Museum nicht mehr mitfinanzieren.
„Über eine Million“, so schätzt der Fotograf, hat er in seinen Traum gesteckt, das Gedächtnis des wohl berühmtesten Stadtteils der Welt zu wahren. 1962 fing er an zu sammeln. Erst eigene Fotos, dann historische. Wenn ein Kiez-Lokal schloss, filzte er den Container. Die beste Fundgrube waren Altersheime: „Die Angehörigen haben meist die Fotoalben geschüttelt, um zu sehen, ob ein Sparbuch rausfällt“ – der Rest gehörte Gün-ter Zint. Schon hat er Erinnerungsfotos einer Stripperin in der Hand, mit denen er eine Epoche deutscher Sexualgeschichte erzählen kann.Über uns, auf einem der dicken Mooreichenbalken, stehen angekohlte High Heels, in denen einst der stadtbekannte Transvestit „Carolina“ über die Bühne stöckelte. Zint hatte sie aus den Trümmern des abgebrannten Sex-Clubs Salambo geborgen. Leichenfledderei. Kurz bevor die Abrissbirne kam, stieg er in den Keller und stieß auf einen vermauerten Raum. Ein paar Hammerschläge später war das Archiv des Vormieters gefunden: des legendären Starclubs. Zwischen Rechnungen und Lieferscheinen fan-den sich Briefe von Beatles-Manager Brian Epstein. Einen, in dem er endlich ein eigenes Bett für jeden seiner Schützlinge verlangte, hat Günter Zint für 25.000 Mark verkauft. Das war der Grundstock für das St. Pauli Museum.
1986 eröffnete die erste Ausstellung, ausgerechnet im Erdgeschoss des konjunkturmüden Eros-Centers von Kiez-Magnat Willi Bartels. Der Im-mobilienkönig war zunächst wenig erbaut von den Plänen des „Kom-munisten“ Zint, aber allmählich wurde er einer der treuesten Unterstützer des Museums. Er überließ Zint 1996 einen Pavillon auf dem Spielbudenplatz, als das Museum die Miete im Hinterstübchen von Schmidt’s Tivoli nicht mehr aufbringen konnte. Aber nach ein paar Monaten riss die Stadt den Pavillon für die „unmittelbar bevorstehende“ Neugestaltung des Spielbudenplatzes ab… Es ging ins Schanzenviertel, aber weitab von den Touristenströmen war das Museum schon gar nicht finanzierbar. 2002 war Schluss – jedenfalls fast. Zint lagerte sei-ne Sammlung auf seinem Hof ein. Im vergangenen Jahr wagte der un-erschütterliche Optimist in der Davidstraße einen letzten Versuch mit der Galerie „Golden Sixties “, aber nach ein paar Monaten wuchs ihm die Miete wieder über den Kopf.
Das St. Pauli Museum war stets auf Sponsoren angewiesen. Einer der wichtigsten war der Schlagertexter Ernst Bader („Junge von St. Pauli“). Heute muss man die enge Stiege zum Dachboden von Günter Zint erklimmen, um den Nachlass des Erfolgsautors zu sehen. In seiner Hausbar steht eine Schnapskaraffe mit eingebautem Glockenspiel. „Die hat ihm seine Haushälterin geschenkt,“ sagt Zint, „damit sie hören konnte, wenn er wieder mal zur Flasche griff.“ Bader, ansonsten ein sitten-strenger Mann, hätte die Schaufensterpuppe neben seinem Buffet wahrscheinlich nicht gefallen: Sie ist nur mit Lederkorsage und Hun-dehalsband bekleidet. Gegenüber lehnt ein Harem lebensgroßer Nack-ter von Kiez-Maler Erwin Ross, die ihre Schuldigkeit als Animierdamen aus Pappe getan haben. Mitten zwischen den St. Pauli-Kuriosa steht ein Großabzug von Jimi Hendrix. „Das Bild habe ich bei mir im Garten gemacht“, erzählt Zint, „als Jimi bei mir wohnte.“ Hendrix war aus seinem Hotel geflogen – weil er selbst für St. Pauli-Verhältnisse zu laut Musik gehört hatte. Fast hätten wir die Stiefel übersehen, die Hans Albers als „Der tolle Bomberg“ trug – weiß-gold und mit innen verstecktem Absatz. „So groß war der blonde Hans nämlich nicht“, sagt Zint schmunzelnd.
Die unscheinbarsten Pretiosen verwahrt Zint in einem Stahlschrank: Ein Dokument von 1682, das das Schlachten auf St. Pauli erlaubt. Ein „Preis-Courant“ für Präservative aus dem 19. Jahrhundert. Kasino-speisekarten. Operettenspielpläne. Manchmal beschleicht einen die Angst, dass das Gesamtkunstwerk gar nicht ohne seinen Gründer existieren kann. Wer erzählt die wunderbaren Anekdoten, wenn nicht Günter Zint? Und dennoch: Er will – muss – sich von seinem Museum trennen. Die Rente, die er ab dem kommenden Jahr bezieht, reicht nicht für ein teures Hobby. Und überhaupt, ein Stadtteilmuseum auf dem platten Land – absurd! Es existiert hier quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Heute sichten die Bestände fast nur noch Wissenschaftler und Ausstellungskuratoren, die sich ein paar Stücke borgen wollen.
Damit könnte bald Schluss sein. Günter Zint hat der Stadt Hamburg ein eigentlich unwiderstehliches Angebot gemacht: Für 150.000 Euro würde er seine Sammlung verkaufen, um zumindest die Schulden zu decken, die das Museum aufgehäuft hat. Obwohl er überzeugt ist, dass der Wert höher liegt: „Ein Auktionator hat die Bestände grob gesichtet und gesagt: Da machen wir eine Million draus, Herr Zint.“ Vorher müsste aber alles inventarisiert werden, wofür wiederum Geld fehlt. Ein Teufelskreis, aus dem Zint keinen Ausweg sieht, zumal die Stadt nicht die Katze im Sack kaufen will: „Mir blutet auch das Herz, aber aus dem Haushalt könnten wir das nicht“, sagt Rüdiger Jörn, in der Kulturbehörde für Privatmuseen zuständig. „Selbst um auf Sponsorensuche zu gehen, müssen wir den Wert der Sammlung kennen!“ Letzter Strohhalm soll die Hartz-IV-Reform werden: Ein Ein-Euro-Jobber könnte die Samm-lung katalogisieren, damit die Stadt entscheiden kann – wenn die Bank Zint nicht vorher zum Ausverkauf zwingt. Ohne Register kann sich die Behörde nur den Erwerb einzelner Stücke aus Zints Sammlung vorstel-len, aber der wehrt sich leidenschaftlich: „Die Sammlung muss zusam-men bleiben! Ehe sie in alle Winde zerstreut wird, verbrenne ich sie auf dem Heiligengeistfeld.“ Es ist zu befürchten, dass er es ernst meint. „Aber bis zu diesem Tag werde ich weiter sammeln“, sagt er, „das ist eine Krankheit.“