Keine Muckelbude

Zu Besuch bei der „Weisen Frau“: Lebensberatung statt Wahrsagen

(aus Hinz&Kunzt 146/April 2005)

Mit einem warmen Lächeln im weichen Gesicht empfängt Karin Tietjen ihre Klienten. Eine große Frau in einem kleinen Wagen.

Sie reibt die Hände. Die Zeitschaltuhr für den Heizkörper hat nicht funktioniert. Es ist kalt in dem Bauwagen aus Holz. Gleich unterm Riesenrad steht er. Niedlich. Mit dem kleinen Schornstein auf dem roten Dach wirkt er wie ein nostalgisches Spielzeug zwischen den modernen blinkenden Fahrgeschäften auf dem Heiligengeistfeld. Über der Tür hängt ein Schild: „Weise Frau“, im Fenster eine Tafel: „Das Tarot spricht in einer Symbolsprache des Unbewussten, es kann uns Türen zu den geheimen Bereichen der Seele öffnen…“ Wenn das grüne Licht an der Tür leuchtet, darf man eintreten, einzeln – die Geheimnisse der Seele sind eine intime Ange-legenheit.

Drinnen riecht es gut. Nach Duftlampe. Ein freundlicher Raum in hellen Farben mit postkartengroßen Bildern an den Wänden, auf den Regalen kleine Figuren und Steine. Wo ist die Kristallkugel? „Das hier ist keine Muckelbude“, sagt Karin Tietjen und lacht. Statt wallender Gewänder trägt sie Strickjacke, sitzt an einem kleinen Tisch und wiegt einen Stapel Karten in den Händen.

Liebe und Arbeit – das seien die dominierenden Themen, sagt sie. Bei den Männern, den selteneren Kunden, erst die Arbeit, dann die Liebe. Zur Zeit seien wirtschaftliche Existenzängste allgegenwärtig.

Sie breitet die Tarot-Karten verdeckt auf dem Tisch aus. Ich nehme mehrere auf, betrachte die Bilder und spekuliere über ihre Bedeutung. Die weise Frau fragt nach meinem Eindruck. Meine Karte für die Arbeit zeigt einen jungen Mann, der mit Münzen spielt. Die Lage scheint mir nicht so schlecht zu sein: Das Bild macht einen fröhlichen Eindruck. Geld verdienen mit leichter Hand sei das Thema dieser Karte, sagt sie. Wunderbar. Das gefällt mir. Es könne sich um eine Vorhersage han-deln, aber auch um eine Aufgabe, gibt die weise Frau zu bedenken. Ich beginne zu begreifen, dass das Tarot mindestens ebenso viele Fragen aufwirft, wie es beantwortet.

Eine Viertelstunde oder länger dauert eine Sitzung bei Karin Tietjen. Ab zehn Euro aufwärts. Je nach Menge der gezogenen und besprochenen Karten. Ganz unterschiedliche Menschen, junge, alte, arme und reiche kommen zu ihr. Manche haben sogar Geld gespart, um sich den Besuch bei der weisen Frau leisten zu können. Oft kommen auch Jugendliche mit Problemen in der Schule oder mit den Eltern.

Das Zuhören und Reden macht ihr Spaß, es sei nicht bloß ein Job, sagt sie. Sie mag die Menschen. Sie ist das Gegenüber, das viele suchen, und manchmal auch diejenige, die weiterführende Empfehlungen für eine Therapie oder Ähnliches gibt. „Viele kommen nach Monaten erneut zu mir, einfach um mir mitzuteilen, was sie gemacht haben, was in ihrem Leben passiert ist. Sie berichten.“

Wünsche, Träume und Ängste werden ihr anvertraut. Doch sie stellt gleich klar: „Ich bin nicht jemand, der schönredet.“ Sie motiviere, ver-suche Selbstvertrauen zu geben, formuliere aber auch Bedenken, wenn sie dafür Anlass sieht – zum Beispiel, wenn sie den Eindruck hat, jemand könne die physischen und psychischen Investitionen nicht leisten, um ein Vorhaben zu realisieren.

Und das Wahrsagen im Sinne von Vorhersagen des Zukünftigen? Die Lottozahlen für nächste Woche? Sie schüttelt die grauen Locken: „Ach, das werde ich immer wieder gefragt, aber so etwas sage ich nicht voraus, kann ich auch gar nicht.“ Ihre Arbeit versteht die 47-Jährige vielmehr als praktische Lebensberatung: „Mein Anliegen ist es, Wege aufzuzeigen, jeder entscheidet dann letztlich für sich selbst. Es geht um das Jetzt, um die Realität“, betont sie. Auf ihrer Visitenkarte steht Gesundheitspraktikerin: Das bedeutet, Menschen dabei zu unterstützen, sich wohl zu fühlen in einem ganzheitlichen Sinne. Klingt nach Wellness und irgendwie esoterisch, orientiert sich aber – der Deutschen Gesellschaft für alternative Medizin folgend – an einer von der WHO formulierten Definition von Gesundheit: Ein Zustand des umfassenden, körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur des Freiseins von Krankheit und Gebrechen.

Seit 1998 ist Karin Tietjen als weise Frau unterwegs. Am Anfang bot die gelernte Köchin ihre Dienste nebenberuflich und vor allem auf Mittelaltermärkten an. Seit drei Jahren ist sie selbstständig, „mit Leib und Seele“ dabei und regelmäßig auf dem Hamburger Dom. Das Kartenlegen ist nur eine ihrer zahlreichen Interessen und Dienstleistungen neben Mineralienhandel, Klangtherapie, Räucherritualen, Massagen und ganzheitlicher Beratung. Vor 20 Jahren veränderte eine schwere Krankheit ihre Weltsicht. „Bis dahin glaubte ich an gar nichts. Ich war Atheist durch und durch“, sagt sie. Zunächst begann sie sich, ihrem Beruf entsprechend, für gesunde und alternative Ernährung zu inter-essieren. Der Rest habe sich Stück für Stück ergeben, sagt sie.

Die SchaustellerKollegen auf dem Hamburger Dom belächelten sie am Anfang. Mittlerweile ist sie akzeptiert, obwohl viele sie immer noch fragen, was sie bloß so lange mit den Leuten sabbele. Karin Tietjen schmunzelt und zuckt mit den Schultern. Erst letztens kam eine ältere Dame zu ihr. Die 87-Jährige hatte sich verliebt. In einen viel zu jungen Mann, einen 50-Jährigen. „Das war so nett“, sagt sie, „da ist es mir doch wurscht, wie lange das dauert.“ Karin Tietjen hält inne, sie scheint sich an etwas zu erinnern und greift nach einer kleinen Figur. Eine Kristallkugel habe sie doch, sagt die weise Frau, lächelt und zeigt die Figur mit der klitzekleinen Kugel: „Das ist Rosi Prognosi aus einem Überraschungsei. Die hat meine Tochter mir geschenkt.“

Annette Scheld

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