Im Fuhlsbüttler Kleekamp lebt sichs fast wie auf dem Dorf
(aus Hinz&Kunzt 145/März 2005)
Dieses Wetter steht dem Hamburger Ziegel nicht. Statt warm und rot zu leuchten, schimmert er im Nieselregen feuchtgrau mit Stich ins Bläuliche.
An so einem lichtlosen Februartag wirken selbst schmucke kleine Backstein-Villen verloren, die kahlen Büsche der Vorgärten zittern unter Sturmböen und hoffen vergeblich, dass jemand sie nach drinnen holt. Ist nämlich keiner auf der Straße bei dem Wetter, außer dem Briefträger, der will selbst ins Trockene und hat natürlich keine Zeit, auch nicht für Fragen. Aber dann, ein Glück, der Schornsteinfeger! Lächelt und beantwortet geduldig Fragen, während es von seinem Zylinder tropft.
Björn Schröder, 25 Jahre, ist im Schwimmverein auf die Idee gekommen, Schornsteinfeger zu werden. Das war nämlich der Beruf des Schwimmtrainers, und der hat Björn einen Praktikumsplatz angeboten, als dieser noch Schüler war. „Es hat mir sofort gefallen, ich habe in dem Betrieb 1998 meine Ausbildung begonnen und bin jetzt immer noch dort.“ Ob Schornsteinfeger vielleicht besonders gerne schwim-men, als Ausgleich zu den luftigen Höhen und dem Ruß? Björn Schrö-der lacht: „Ich hab’s inzwischen aus Zeitmangel und Faulheit aufge-geben.“ Ein Großteil seiner Arbeit finde außerdem gar nicht auf dem Dach statt, sondern im Heizkeller, und schmutzig mache man sich auch nicht immer, weil man nämlich viel messen und diese Daten auswerten muss. „Das ist ja das Schöne, es ist ein abwechslungsreicher Beruf – und bisher bin ich auch nur einmal auf einem Dach ausgerutscht. Aber da war ich noch in der Lehre!“
Er selbst ist in Sasel zu Hause, deshalb kann er über den Kleekamp nur sagen, dass es eine hübsche Wohnstraße mit netten Leuten sei. Seinetwegen könnten wir ihn zu seiner nächsten Kundin hier begleiten und zusehen, wie er den Heizkessel wartet. Aber die ältere Dame in dem älteren Haus möchte das unter keinen Umständen.
Also ohne Glücksbringer weiter die Straße hinunter Richtung U-Bahn-Station Fuhlsbüttel. An der nächsten Kreuzung geht eine wetter-fest verpackte Dame Gassi mit zwei unglei-chen Hunden. Ihr ganzes Leben habe sie hier verbracht, sagt Frau Lanz, und während-dessen sei es immer lauter geworden. „Durch den Hummelsbüttler Kirchenweg dröhnt inzwischen der Schwerverkehr, der Kleekamp ist eine Durchgangsstraße, daran ändern auch die neu angelegten Parkbuchten und der Kreisverkehr am unteren Ende nichts.“ Also ist sie vor ein paar Jahren mit ihrem Mann und den Hunden ausgezogen aus dem Eckhaus. Jetzt wohnen sie ein paar Straßen weiter, haben wieder Ruhe und sind trotzdem noch in „ihrem Viertel“.
„Hier ist es wie in einem Dorf“, sagt 500 Meter weiter Christa Wolken-hauer. Sie betreibt am südlichen Ende des Kleekamps ein Schreib-warengeschäft – in einer Ladenzeile, die in Zeiten der Einzelhandels-krise als kleines Wunder gelten kann. Kein Leerstand, keine Kette, aber dafür alles da, was man zum täglichen Leben braucht: Blumen-laden, Bäcker, Gemüsemann, Fleischer, Feinkostgeschäft, Handarbeits-stübchen, Textilfachgeschäft und eben „Schreiben und Schenken“ von Frau Wolkenhauer, die den Laden „erst“ seit 13 Jahren gemietet hat. Das meint sie ganz ernst, denn von ihren Geschäftsnachbarn ist sie beinahe die Jüngste. Manche sind schon seit den 50er-Jahren hier, seit es die geschwungene Ladenzeile gibt (Backstein, was sonst).
Inge Peier beispielsweise. Vor 50 Jahren kam das Mädchen vom Land als Lehrling in die Bäckerei ihrer Tante, inzwischen ist sie die Inhaberin. „Ich fand das sofort toll: die Waren, die Kunden, die Stadt, einfach alles!“ Inge Peier, inzwischen 64, klingt immer noch begeistert. Selbst gebacken wurde hier nie, sie bezieht ihr Sortiment von unterschied-lichen Bäckern und Konditoren. „So kann ich meinen Kunden immer Abwechslung bieten.“ Wie die anderen Lebensmittelgeschäfte führt sie auch Bio-Produkte, außerdem hat sie eine Auswahl an Naschwerk, an dem kein Kind vorbeigehen kann. „Inzwischen gibt’s ja hier, Gott sei Dank, wieder Kinder, eine Zeit lang dachte ich, das wird ein Altersheim“, sagt sie und lacht. Wie zur Bestätigung steckt eine Dame den Kopf zur Ladentür hinein: „Ich will gar nichts kaufen, aber weil Sie doch immer gefragt haben: Die Enkeltochter ist jetzt da!“ Frau Peier freut sich. Sie selbst hat keine Kinder und weiß deshalb auch nicht, was aus dem Laden werden soll, wenn sie mal nicht mehr kann. Wenn sie frei hat, Diens-tagnachmittag zum Beispiel oder vier Wochen im Sommer, dann, sagt sie, genieße sie es, zu Hause zu sein – gleich um die Ecke im Bergkoppelweg.
„Und sie pflegt mich.“ Eine Frau, der das Sprechen nicht leicht fällt, rollt mit ihrem Rollstuhl aus dem Hinterzimmer in den Laden. „Obwohl sie so viel zu tun hat, kümmert sie sich um mich“, sagt sie mehrmals und strahlt Inge Peier dabei an. Die erklärt: „Das ist meine Freundin. Wir kennen uns seit 50 Jahren, noch vom Land.“ Mehr ist dazu nicht zu sagen – und dann kommt auch schon wieder Kundschaft.
Ein in Einkaufszentren gestählter Fremder fühlt sich hier wie in einer anderen Welt. Beinahe jeder wird mit Namen angesprochen, wer noch nicht dran ist, wartet geduldig, bis Kundin und Verkäuferin fertig sind, einschließlich: „Grüßen Sie die Familie und gute Besserung für den Hund!“ Es gibt keine Musikberieselung, dafür werden Wünsche erfüllt. Zum Beispiel einer Kundin, deren tollpatschiger Mann den Lieblings-Dino-Becher des Sohnes zerbrochen hat. Frau Wolkenhauer führt dieses Modell in ihrem Schreibwarenladen schon lange nicht mehr und kann es beim Händler auch nicht einzeln bestellen. Sie überlegt kurz: „Eine Bekannte von mir arbeitet in der Stadt und kann bei Karstadt gucken. Ich ruf Sie an, wenn wir einen ergattert haben.“ Sichtbar erleichtert, den Familienfrieden in absehbarer Zeit wiederherstellen zu können, verlässt die Mutter den Laden – und bleibt mit Sicherheit Stammkundin.
Trotzdem, sagt Frau Wolkenhauer, man merke seit der Euro Umstel-lung, dass die Leute ihr Geld zusammenhalten. „Und mit den Discounter-Preisen kann ich nicht mithalten, das können Sie ruhig schreiben.“ Sie bekomme nämlich von den Lieferanten gar nicht die gleichen Kon-ditionen wie die Großen. Also zieht sie ihre Konsequenzen, die auch der Glückwunschkarten-Vertreter zu spüren bekommt, der soeben den Laden betritt. „Wenn Sie Ihre Karten auch an Ketten-Läden vertreiben, bin ich nicht interessiert.“ Außerdem beschäftigt sie, anders als früher, keine Verkäuferinnen mehr, auch nicht auf Teilzeitbasis, sondern schmeißt den Laden seit dem Tod ihres Mannes allein. Urlaub hatte sie zuletzt vor fünf Jahren – eine Woche. Und wenn sie mal krank wird? „Dann würde wahrscheinlich eine Bekannte einspringen, die ist selbst-ständig und kann sich ihre Zeit einteilen.“ Aber während sie das sagt, guckt sie, als halte sie das für ziemlich unwahrscheinlich. „Meine Freunde sagen auch immer: Du kannst doch ohne deinen Laden gar nicht sein.“