Die Schülerschule Pinneberg funktioniert ohne Noten, ohne verbeamtete Lehrer und ohne Stundenplan – und das mit Erfolg
(aus Hinz&Kunzt 145/März 2005)
Marie-Laura wundert sich: „Es gibt hier Mädchen, die mir Hallo und Tschüs sagen.“ Das hat sie lange nicht erlebt. An ihrer alten Schule war Marie-Laura nur „die Schlampe“, weil sie sich mit Jungens besser versteht als mit Mädchen. Sie hat eine Lese-Rechtschreib-Schwäche, ist schon zweimal sitzen geblieben und hatte Angst vor jedem Morgen. Jetzt probiert sie die Schülerschule in Pinneberg aus.
Die Schülerschule ist eine Schule für alle. Von der ersten bis zur zehnten Klasse wer-den hier behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam unterrichtet. Es gibt keine Sortierung in Haupt-, Realschule oder Gymnasium. Kinder, so die Philosophie, lernen in gemischten Gruppen besser. Deswegen wird klassen- und fächerüber-greifend unterrichtet. Weil das nicht dem gängigen deutschen Modell entspricht, ist die Schülerschule eine anerkannte Privatschule wider Willen. Klasse 9 hat Projektunterricht. Die Schüler sitzen in Zweier- und Dreiergruppen, sie beugen sich über ihre Hefte oder gehen in die Bibliothek. Sie lesen nach und notieren, wer Aristoteles war, was eigentlich eine Fuge ist oder was genau in Pearl Harbor passierte. Normalfall an der Schülerschule. Die Schüler arbeiten, obwohl kein Lehrer dafür sorgt. Ingrid und Olaf, die Lehrer, sind hier nur Lernbegleiter. Still ist es von alleine.
„Wir arbeiten doch an Dingen, die uns interessieren“, sagt Christina. Aristoteles? Dreiklang? Alles selbst gewählte Themen. Die Neuntklässler haben sich Allgemeinbildung als Projektthema gewählt. Nicht immer können die Schüler ihre Stoffe selbst aussuchen. Doch das Prinzip ist immer das gleiche: Allein oder in Gruppen Inhalte erar-beiten, Ergebnisse präsentieren und manchmal in Tests nachweisen. Referate gibt’s hier schon in der Grundschule.
So wie es keinen Pausengong gibt, machen nie alle Schüler einer Klasse das Gleiche. Wer keine Lust auf die gestellte Aufgabe hat, erledigt sie eben zu Hause und in der Schule eine andere. Dafür arbeiten manche einfach durch in der Pause. Wer schneller ist, bekommt neue Aufträge. Dass jeder sein eigenes Tempo hat, ist an dieser Schule kein Grund, in A-, B- oder C-Kurse zu sortieren. Es gibt Jugendliche, die sind in der 9. Klasse weiter als Gymnasiasten in der 11., andere steuern auf den Hauptschulabschluss zu.
„Früher haben viele Leute geglaubt, wir seien eine Sonderschule“, erzählt Schulleiterin Dorle Roleff-Scholz. Nach dem internationalen Schulvergleich PISA begann der Run auf Pinnebergs Schülerschule: Auf 20 Plätze kommen seitdem mindestens 50 Bewerbungen. Überhaupt: PISA. Nicht dass die Schulleiterin etwas gegen den Abo-Sieger Finnland hätte. Aber es wurmt sie schon, dass diese ganzen Delega-tionen immer nach Skandinavien fahren – vorbei an der Schülerschule, die das finnische Prinzip seit langem praktiziert.
„Wir haben ein gutes Verhältnis zu den Lehrern, aber wir können ihnen auch nicht auf der Nase rumtanzen.“ Eliza spricht über das, was an Reformschulen von außen so oft misstrauisch beäugt wird: die Disziplin. Manch ein Schüler würde die Lehrer lieber siezen. Und Juliane findet, „es wäre manchmal besser, wenn man so richtig sauer sein könnte auf die Pauker.“ Was aber offenbar nicht leicht fällt. „Ich habe in der siebten Klasse in Mathe nichts hingekriegt“, erzählt Niklas, „an einer anderen Schule hätte ich den Anschluss verloren.“ Hier ging das nicht. Die Lehrer ließen Niklas mit seinen Problemen nicht allein. Irgendwie geht das auch gar nicht anders. Abschieben, das gibt es an der Schülerschule nicht. Niemand kann sitzen bleiben – Noten gibt es erst ab Klasse 9.
Derweil erklärt Lena der Klasse die Moosarien, die auf der Fensterbank stehen. Das soll der Versuch sein, ein in sich geschlossenes System aus Erde, Steinen, Moos und Wasser nachzubilden – in einem Marmela-denglas. „In Epoche machen wir gerade Wald“, sagt Lena. Im Epochen-unterricht behandeln die Klassen über mehrere Wochen intensiv und fächerübergreifend große Themen.
Die Schülerschule in Schleswig-Holstein existiert seit fast 20 Jahren. Ihre Lehrer sind staatlich ausgebildete Pädagogen. Allerdings verzichten sie alle auf einen Teil ihres Gehalts – und sind nicht verbeamtet. Dafür kennen sie angeblich kein Burn-out. Vielleicht, weil niemand Einzelkämpfer ist. Mehr als die Hälfte der Stunden unterrichten die Lehrer im Team, zu zweit oder sogar zu dritt. Die Pädagogen wissen zu schätzen, was an vielen Schulen Luxus ist: jeden einzelnen Schüler zu kennen, zu bemerken, wenn er Schwierigkeiten hat, und sich um ihn kümmern zu können. Wenn Schüler besonders stark sind, dann wird auch das gefördert. Wenn das Zusatzpensum sie nicht mehr auslastet, kann ein Jugendlicher in die Rolle des Lehrers schlüpfen – und selbst Kurse für Mitschüler anbieten.
Selbstverständlich gibt es auch Konflikte. Aber die Sanktionen handeln Lehrer und Schüler gemeinsam aus. Wenn die frisch renovierten Toiletten beschmiert sind, dann beauftragen die Lehrer eine Klasse, dafür zu sorgen, dass das nicht mehr vorkommt. „Wir wollen, dass die Schüler Verantwortung übernehmen“, sagt Lehrerin Simone Schumacher.
Früh geht es in der Schülerschule auch um das Leben danach. In Klas-se 6 und 7 wird Berufsorientierung eingeführt, in Klasse 7 das Wirt-schaftsleben anhand von Scheinfirmen ausprobiert, und in Klasse 8 und 9 stehen jeweils drei Wochen Praktikum auf dem Plan. Und wer mit dem Hauptschulabschluss abgeht, der bekommt den nicht einfach so, sondern muss dafür ein Thema seiner Wahl praktisch und theoretisch aus der Sicht unterschiedlicher Fächer erarbeiten und der Schulöffentlichkeit vorstellen – ein Prinzip, das das schleswig-holsteinische Kultusministerium gerade landesweit eingeführt hat. „Wir haben noch nie erlebt, dass jemand das nicht hinbekommen hat“, sagt Dorle Roleff-Scholz. Die meisten gingen gestärkt und mit einem aufgewer-teten Abschluss aus ihrer Arbeit hervor.
Etwa 45 Prozent der Schüler verlassen die Schülerschule mit dem Hauptschulabschluss, knapp 40 Prozent eines Jahrgangs beenden sie mit dem Realschulabschluss, mindestens die Hälfte von ihnen geht dann noch weiter. Gut elf Prozent verlassen die Schule ohne Abschluss. Jeder nach seinen Möglichkeiten. Denn, wie Svenja aus der 6. Klasse sagt: „Hier sind alle Kinder zusammen, die es gibt.“
Die Lehrer hier glauben an den Wettbewerb mit sich selbst, der nicht zur Verdrängung, sondern zu einer langfristig tragfähigen Entwicklung der eigenen Person führt. „Wir müssen Situationen schaffen, in der Kinder ihre Stärken erleben, denn die hat jedes Kind“, sagt Andreas Lehmann-Grube, der die Grundschule leitet. Die Leistungsschwächeren müssen lernen, dass es Stärkere gibt, „den Frust können wir ihnen nicht ersparen.“ Die Stärkeren müssen lernen, auf die anderen nicht herabzusehen. Ein Lebensthema: Ich bin anders, du auch.