Zu fünft im Zimmer

Ortstermin: eine Obdachlosen-Unterkunft in Glinde

(aus Hinz&Kunzt 140/Oktober 2004)

„Die junge Stadt im Grünen“, so wirbt Glinde für sich. Ein Städtchen im Osten Hamburgs, 16.000 Einwohner – und ein paar Menschen, die keine Wohnung haben. 13 von ihnen hat die Stadt in einer Villa einquartiert. Bis zu fünf Bewohner sind in einem Zimmer zusammengewürfelt – obwohl andere Räume leer stehen. Hinz & Kunzt war vor Ort.

Klare Worte: „Beschissen ist das Leben hier“, klagt Hans-Peter. Der 59-Jährige sitzt auf seinem Bett in einem Zimmer, das eigentlich ganz schön wäre. Groß und hell, in einem alten Haus im Grünen, ruhig gelegen neben einem Altenheim. Aber Hans-Peter ist in dem Raum nie allein. Er lebt hier mit vier weiteren Männern. Jeder von ihnen führt den Kampf um etwas Privatsphäre auf seine eigene Art. Einer hat alte Pappkartons zu einer kleinen Mauer aufgetürmt. Beim anderen dudelt der Fernseher die Stimmen der Mitbewohner weg. Der dritte ist tief unter die Bettdecke verkrochen. Und Hans-Peter baut sich Wände in seinem Kopf. „Das geht mich alles nichts mehr an“, sagt er, „mich hat niemand gefragt, ob ich hierher will, deswegen denke ich auch nicht mehr darüber nach.“

Seine neue Adresse ist Togohof 3. Bis vor kurzem haben die Glinder über den passenden Straßennamen gegrinst, weil hier Asylbewerber untergebracht waren. Jetzt wurden 13 Wohnungslose einquartiert, die vorher in zwei Containersiedlungen gelebt hatten. Manche, wie Hans-Peter, waren fast zehn Jahre dort. Er sehnt sich zurück. „Da konnte man allein sein und hinter sich abschließen.“ Manchmal, wenn ihn Enge, Lärm und Konflikte im Fünferzimmer nerven, denkt er daran, wieder zur Flasche zu greifen – obwohl er seit Jahren trocken ist.

Wie die Rangordnung im Zimmer abgemacht wird, ist unklar. „Klar, es gibt schon mal Aggressionen, es wird auch gebrüllt“, erzählt Matthias. Er ist als letzter gekommen, kein langjähriger Containerbewohner wie die anderen. Seine Wohnung habe er erst vor kurzem verloren, „aus eigener Dummheit, weil ich mich nicht um die Miete gekümmert habe“. Willkommen war er offenbar nicht: Dem schmalen Mann blieb nur ein karges Bett neben der Tür, kein Platz für persönliche Sachen. Dass er einen Job bei einer Zeitarbeitsfima hat, macht ihn zum Störfaktor: jeden Morgen um halb sechs klingelt sein Wecker und weckt auch die anderen. Die nehmen dafür abends wenig Rücksicht. „Da ist manchmal Highlife bis spät in die Nacht“, sagt Matthias. Kann man denn da schlafen? „Ich muss“, sagt Matthias und lächelt schief.

Hinz & Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer hält nichts von solcher Unterbringung: „Jeder Mensch hat ein Recht auf einen privaten Bereich.“ Die Tür hinter sich schließen zu können sei auch wichtig, um das eigene Leben wieder in den Griff zu bekommen.

Während die Bewohner mit Kartonmauern um etwas Privatsphäre kämpfen, stehen im Haus sogar Zimmer leer. Sie sind verschlossen. „Wir füllen zunächst die Räume, bevor wir neue aufmachen“, sagt der Leiter des Ordnungsamtes in Glinde, Bernd Mahns. Sonst gebe es nur Probleme, sobald weitere Bewohner einquartiert werden müssen. „Dann werden die Neuen von Zimmer zu Zimmer geschickt, weil jeder allein in seinem Raum bleiben will.“

Wahrscheinlich hätte das alles wenig Aufsehen erregt, weil Menschen wie Hans-Peter oder Matthias nun mal keine Lobby haben. Wenn nicht Brigitte Marks auf das Haus aufmerksam geworden wäre. Die ehemalige ehrenamtliche Sozialrichterin aus Reinbek setzte sich schon mehrfach für Mittellose und Behinderte ein, sammelte Spenden und half durch den Behördendschungel. „Als ich zum ersten Mal in den Togohof gekommen bin, war ich völlig entsetzt“, erzählt die Rentnerin, „hier wohnen zu müssen ist menschenunwürdig.“

Gemeinsam mit zwei anderen Frauen bringt die 57-Jährige nun zweimal die Woche Essen und alte Kleidung, hilft den Wohnungslosen, Anträge auszufüllen, und hört sich die Sorgen an. Aber sie tut nicht nur das. Sie schickt auch unzählige Faxe an die Ämter, in denen sie penibel Missstände auflistet. Der versiffte Teppichboden. Der Schimmel in einem der Räume. Der Dreck in Toiletten und Küchen. Nicht mal ein Telefon für den Notfall gebe es im Haus.

Brigitte Marks ist es mittlerweile gewohnt, Besuchern das Haus zu zeigen. Kirchenvertreter waren hier, Politiker, die Lokalzeitung. Auch das Gesundheitsamt war da, entdeckte aber keinen Schimmel. Marks vermutet, dass der vorher überstrichen wurde. Sie ist gut darin, alle Räder in Bewegung zu setzen. So gut, dass viele im Glinder Rathaus mittlerweile hörbar durchatmen, wenn sie den Namen hören. „Die Regenrinne ist verstopft, immer noch!“, fällt Marks auf, als sie das Haus besucht und der Regen aus der Rinne prasselt. Später wird sie ein Fax an den Bürgermeister schreiben, um darauf hinzuweisen.

Solche Faxe landen dann oft auf dem Schreibtisch von Ordnungsamtsleiter Mahns. Ohne das direkt zu sagen: Er ist genervt von der selbst ernannten Wohnungslosen-Lobbyistin. Mit ruhiger Stimme klärt er über seinen knappen Etat auf, erläutert, dass das Haus natürlich hübscher sein könne, und dass es schön wäre, wenn sich Glinde einen Sozialarbeiter für den Togohof leisten könnte. Aber von „menschenunwürdig“ könne nun wirklich keine Rede sein. Dass die Containerunterbringung menschenfreundlicher als der Togohof sein soll, hält Mahns für lächerlich: „90 Prozent waren völlig verdreckt.“ Da hätte er keinen Hund reinschicken wollen. „Dadurch, dass im Togohof mehrere Leute zusammenleben, guckt jeder mal darauf, dass der andere seinen Dreck auch wegmacht“, erklärt Mahns.

Hauptsächlich guckt da Bewohnerin Monika drauf. Und macht den Dreck meist selber weg. „Ist doch klar, den jungen Männern ist das nicht so wichtig, aber ich muss dann einfach mal saubermachen“, so die 57-Jährige. Brigitte Marks hat jetzt zumindest eine Erstattung für die Putzmittel beantragt.

So haben die Bedingungen im Togohof zumindest ein Gutes: Sie rufen Initiative hervor. Nicht nur bei Marks, die weiter Faxe schreibt, Honoratioren durchs Haus führt und Mahns auf die Nerven geht. Auch die Bewohner lassen sich vom Elan der Rentnerin anstecken. Ein Bewohner hat mittlerweile die Küche neu gestrichen. Die Farbe bezahlte er aus seinen eigenen kargen Mitteln.

Marc-André Rüssau

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