Kein Pardon

Hamburgs Behandlungszentrum für traumatisierte Flüchtlinge muss zum Jahresende schließen

(aus Hinz&Kunzt 139/September 2004)

Dr. Sabine von der Lühr schießen Tränen in die Augen. „Ich bin 60. Ich kann den Job eh nicht mehr lange machen“, sagt die Psychologin von accept, der einzigen mit öffentlichen Mitteln geförderten Einrichtung in Hamburg, die traumatisierten Flüchtlingen, Kriegs- und Folteropfern sozial- und psychotherapeutische Hilfe bietet. Aber natürlich habe sie auf eine Nachfolgerin gehofft, sagt sie nach einer kurzen Pause. „Stattdessen muss ich den Klienten jetzt eiskalt mitteilen: Ab Dezember ist niemand mehr hier.“

Fast 20 Jahre besteht das Behandlungszentrum der Gesellschaft zur Unterstützung von Gefolterten und Verfolgten. Es hilft Menschen aus rund 50 Ländern – vor allem Kurden aus der Türkei, dem Iran, Irak und Syrien, Afrikanern und Arabern. Geschickt werden sie von sozialen Diensten, Rechtsanwälten, Ärzten und Therapeuten, Kliniken und dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge.

Bislang unterstützte die Sozialbehörde accept mit 329.000 Euro jährlich. Doch damit soll jetzt Schluss sein. Die Begründung: Mit dem Rückgang der Flüchtlingszahlen sei auch die Zahl der Beratungen bei accept gesunken. Künftig können niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten die traumatisierten Flüchtlinge betreuen, so Behördensprecher Oliver Kleßmann. Schon darf accept keine neuen Klienten mehr annehmen. Von November an stirbt der Publikumsverkehr. Dann folgt die Projektabwicklung. Den sieben Mitarbeitern wurde gekündigt. Verhandlungen gab es nicht.

Tatsächlich sank die Zahl der Sozialberatungen – von 3509 im Jahr 2001 auf 1796 im Jahr 2003. Das bestätigt auch accept-Geschäftsführerin Naciye Demirbilek. Die Zahl der psychotherapeutischen Beratungen blieb dagegen konstant: Die zwei accept-Psychologen, die sich eine Stelle teilen, betreuen rund 80 Klienten jährlich. Sie hatten gehofft, sich angesichts der zurückgehenden Flüchtlingszahlen intensiver um die Menschen kümmern zu können. „Der Körper ist ein gnadenloser Speicher für Erlebnisse“, so Psychologin von der Lühr. Daher dauert eine Traumatherapie ein bis zwei Jahre, bei Menschen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus länger. Das bestätigt auch Dr. Karl-Heinz Biesold, leitender Arzt für Neurologie und Psychiatrie am Hamburger Bundeswehrkrankenhaus. Er behandelt traumatisierte deutsche Soldaten. Seit die Bundeswehr Auslandseinsätze im Kosovo oder Afghanistan leistet, landen immer mehr von ihnen in Wandsbek. Auch Biesold warnt vor den Folgen abgebrochener Traumatherapien: „Das ist, als wenn Sie Medikamente plötzlich absetzen. Dann kommt es auch zu einer Verschlimmerung des Zustands.“

Doch die Sozialbehörde bleibt hart: „Die Therapien müssen bis Ende des Jahres abgeschlossen sein“, so Behördensprecher Kleßmann. Wo das nicht möglich sei, sollen niedergelassene Ärzte und Psychologen einspringen. Mit ihrer Haltung bringt die Behörde den gesamten Berufsstand auf die Palme: Sowohl die Hamburger Psychotherapeutenkammer, der Berufsverband Deutscher Psychologen (BDP) als auch der Deutsche Psychotherapeuten Verband halten die Arbeit von accept in Hamburg für unersetzlich. Einhellig beklagen sie, dass es schon jetzt viel zu wenige niedergelassene Psychotherapeuten in Hamburg gibt. Die Folge seien monatelange Wartezeiten. Die meisten Menschen, die bei accept auftauchen, seien aber bereits kurz vor dem Zusammenbruch. Da sei sofortige Hilfe nötig.

Erschwerend komme hinzu, dass der Psychotherapeut die Sprache seines Patienten beherrschen muss oder – wie auch von accept eingesetzt – einen spezialisierten Dolmetscher benötigt. Behördensprecher Kleßmann verweist darauf, dass genügend Hamburger Therapeuten mit Dolmetschern arbeiten würden. Ob die Flüchtlinge in den Genuss ihrer Hilfe kommen, ist allerdings fraglich: Dolmetscherkosten, so Sabine von der Lühr, werden von Krankenkassen nicht übernommen. Das Gesetz sieht kein Anrecht auf eine Psychotherapie in einer anderen als der deutschen Sprache vor.

Wer sich keinen Dolmetscher leisten kann, könne ja künftig Familienmitglieder einsetzen, ist zu vernehmen. Solche Vorschläge bringen Psychotherapeuten in Rage: Für Familienangehörige sei die Konfrontation mit dem Leid der Verwandten extrem belastend. Unvorhergesehene Reaktionen seitens der therapeutisch nicht ausgebildeten Familienmitglieder könnten den Heilungsprozess erschweren. Außerdem: „Erfahrungen mit Folter und Missbrauch sind extrem schambesetzt“, so Thomas Kirche vom BDP. „Sie werden auch nahe stehenden Menschen selten vollständig offenbart – genau deshalb brauchen wir ja die Psychotherapie.“

Annette Woywode

Weitere Artikel zum Thema