Industrie, ein paar Wohnungen und ein Imbiss – Beobachtungen auf der Peute
(aus Hinz&Kunzt 139/September 2004)
Sie winkt mit einem Geschirrhandtuch. Durch die offene Hintertür des kleinen Imbisscontainers grüßt Renate die Lastwagenfahrer, die auf der Peute vorbeifahren. „Das macht man hier so, ich wink’ hier keinen ran, das hab’ ich nicht nötig“, erklärt die 54-Jährige, die ihren Nachnamen nicht verraten will.
Die meisten Kunden im Imbiss an der Peutestraße, Ecke Oberwerder Damm im Stadtteil Veddel, sind Lkw-Fahrer, wie der Mann mit Bauch und ärmellosem Shirt, der schnell sein Wechselgeld einsteckt und dann auch schon weiter muss, um kontaminierten Boden an seinen Zielort zu bringen. Mit weißer Schürze über kurzer Hose wuselt Renate hinterm Tresen, schenkt Kaffee ein, räumt Teller weg, legt neue Würstchen auf den Grill und angelt mit einem großen Messer eine Schachtel Zigaretten aus dem Regal, das ein bisschen zu hoch für sie hängt. Sie ist immer in Bewegung, schnell und sicher erfüllt sie die Kundenwünsche: „Hier gibt’s nur Stammkunden. Früher kamen sie zum Frühstück und Mittag, jetzt mehr so zwischendurch.“
„Als sie noch nett war, kamen mehr“, wirft der Mann im karierten Hemd vorm Tresen ein, grinst und beißt in sein Mettbrötchen. Renate lächelt für zwei Sekunden, wischt mit dem Lappen über die Ablage und wendet sich bereits einem neuen Kunden zu: „Was kann ich für dich tun, Schätzchen?“
Knackwurst und Kaffee. „Zweites Frühstück“, sagt Bernd Böhnke und dreht die Wurst im Senf. Ein schlanker Mann im roten Monteursanzug, mit grauen Haaren und Vollbart. Er wartet auf sein Schiff. Als Ladungskontrolleur prüft er, ob an Deck noch Rückstände von der Fracht sind – hier auf der Peute auf Binnenschiffen, sonst auf Seeschiffen. Seit 30 Jahren ist er dabei – und weiß genau, dass er am 1. März 2007 in Rente gehen wird. Er zeigt seine klobigen Arbeitsschuhe: Ihre Oberfläche ist von den ätzenden Chemikalien angefressen, mit denen er zu tun hat.
Draußen vor dem Imbiss riecht es nach Abgasen und Schokolade. Bei „Hamester Kakao“ nebenan sind heute nur noch wenige beschäftigt, zwischendurch hatten sie schon mal ganz dichtgemacht, weiß Renate. Vor einigen Jahren habe es noch eine kleine Werft, eine Fisch- und eine Seifenfabrik gegeben. „Alles zu, mittlerweile.“ Sie kennt sich aus. Seit 24 Jahren ist sie auf der Peute, früher hat sie hier gewohnt mit ihrem Mann und den Kindern. Sie fühlten sich wohl, arbeiteten und wohnten bei einer Spedition als Hausmeister. Damals hat sie im Imbiss nur ausgeholfen, jetzt arbeitet sie 20 Stunden pro Woche dort und wohnt in Hamburg-Hamm. Die Spedition war Pleite gegangen, aus der Wohnung mussten sie raus: „Eine Sauerei war das.“
An den Straßenrändern haben sich Disteln breit gemacht. Alte Eisenbahngleise kreuzen die Straße. Kleinere Gewerbebauten warten auf ihren Verfall. Für Fußgänger ist die Gegend gefährlich. Es gibt so gut wie keine Gehwege. Wozu auch? Speditionen, Baustoffbetriebe und Recyclingunternehmen prägen das Industriegebiet am Peutekanal, südlich der Norderelbe, hinter der Neuen Elbbrücke. Die Buslinie 254 hält hier nur sehr früh morgens und am frühen Nachmittag, zum Schichtwechsel.
Abends und am Wochenende sei es wie ausgestorben. „Wir haben hier unsere Ruhe“, sagt Judith Richter in ihrer Wohnung, während draußen die Laster dröhnen. Die kleine freundliche Frau mit den vollen Haaren ist eine der wenigen, die hier wohnen. „Home sweet home“ ist auf einem verspiegelten Schild inmitten der vielen Familienfotos zu lesen. Eine schwarze Katze umkreist auf der Suche nach Streicheleinheiten lautlos die Sofagarnitur.
Judith Richter ist müde, aber trotzdem bereit zu einem Gespräch. Die 55-Jährige ist gerade erst von ihrer Arbeit bei der Post in der City Nord heimgekehrt. Ein weiter Weg von der Peute. Früher ist sie mit dem Fahrrad bis zum Bahnhof gefahren, doch mit den kaputten Knochen geht das nicht mehr. Ihr Mann fährt sie frühmorgens zur Arbeit, mittags kommt sie mit dem Bus zurück. Zu zweit bewohnen sie die obere Etage eines Wohnhauses. Es steht auf dem Hof der „Elektro-Recycling Nord“, nicht weit von Renates Imbisscontainer. Vor dem Küchenfenster ein Kasten mit Geranien, gleich dahinter türmen sich Berge von Computer- und Elektronikschrott. Ein bizarrer Ausblick. Aber in der Ferne ist auch der Peutekanal mit seinen grünen Ufern und den Schiffen zu sehen. Und vor dem Haus gibt es einen kleinen Garten.
„Es ist okay hier.“ Ihr Mann ist Betriebsschlosser und Hausmeister in der Recyclingfirma, die unten im Haus ihr Büro und drum herum ihr Firmengelände hat. Seit 16 Jahren wohnen sie hier, früher lebte sie mit Mann und Tochter in Sasel. „Da war es schön, aber abends und am Wochenende lauter“.
Judith Richter kommt vom anderen Ende der Welt auf die Peute. Im australischen Adelaide traf die gebürtige Australierin ihren Mann, der 1954 mit seiner Familie von Hamburg ausgewandert war. Sie verliebten sich, heirateten und kamen Ende der sechziger Jahre nach Hamburg. Denn damals sei die Situation in Australien nicht so rosig gewesen: keine Arbeit und nur geringe Sozialleistungen. Nur zweimal hat Judith Richter seitdem das Land ihrer Kindheit besucht. Mittlerweile hat sie zwei Enkelkinder in Hamburg, und für sie ist klar: „My home is where my heart is – wo man geboren ist, das ist nur ein Ort. Wo die Liebsten sind, da ist die Heimat.“ Natürlich kennt Judith Richter auch den Imbiss auf der Ecke, manchmal holt sie dort abends Zigaretten. „Klar, die Renate, die kennt doch jeder hier“, sagt sie, lacht und reibt sich die müden Augen.
Zurück zum Imbiss. Auf die ersten Fragen hatte Renate noch etwas grummelig mit „Nö, muss nicht unbedingt sein“ reagiert. Jetzt zum Abschied guckt sie kurz aus der Hintertür ihres Imbisscontainers und lüpft das Geschirrhandtuch zum Gruß.