St. Petersburg :
„Besonders harter Winter“

In Hamburgs Partnerstadt St. Petersburg leben Zehntausende auf der Straße. Staatliche Unterstützung gibt es kaum. 147 Menschen sind allein im vergangenen Dezember erfroren. Ein Gespräch mit Grigory Svedlin, der die Hilfsorganisation Nachtasyl leitet.

28.000 Menschen leben in Hamburgs Partnerstadt St. Petersburg auf der Straße – so lautet zumindest die offizielle Zahl. Die Hilfsorganisation Nochlezhka (deutsch: Nachtasyl) allerdings geht von 60.000 aus. Allein im Dezember sind 147 Menschen dort erfroren. Es fehlt an staatlicher Unterstützung. Um die schlimmste Not zu lindern, stellen die Helfer in Eigenregie eine Unterkunft und zwei Wärmezelte auf – viel zu wenig, doch mehr kann sich die Organisation nicht leisten. Wir sprachen mit dem Leiter von Nachtasyl Grigory Svedlin über alten Menschen, die in Autos übernachten, korrupte Polizisten und kleine Hoffnungsschimmer.

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Grigory Svedlin leitet die Hilfsorganisation Nachtasyl.

Hinz&Kunzt: In St. Petersburg gibt es Zehntausende Obdachlose. Und da stellt Nachtasyl mit 52 Betten die größte Notunterkunft der Stadt?
Grigory Svedlin: Unsere Politiker sagen: Obdachlosigkeit gibt es nicht. Die Menschen entscheiden sich selber dafür, auf der Straße zu leben. Die Realität ist: 2011 starben über 600 Menschen auf der Straße. Allein im letzten Dezember gab es schon 147 Kältetote. Dieser Winter ist besonders hart, selbst für russische Verhältnisse. Deshalb stellen wir zusätzlich Wärmezelte auf, die 60 Menschen Platz bieten. Wir brauchen mindestens 20 solcher Zelte, können uns aber nur zwei leisten.

H&K: Wie viele Menschen stehen für diese Plätze an?
Svedlin: In der dritten Nacht waren bereits alle Betten belegt. Da ging nichts mehr. Jeden Tag gibt es lange Schlangen für frei werdende Betten. Wer leer ausgeht, muss leider draußen schlafen, weil wir sie nicht alle unterbekommen.

H&K:  Die Menschen bekommen dort auch eine warme Mahlzeit von Ihnen …
Svedlin: Ja, und wir stellen auch medizinische Unterstützung bereit, so weit das möglich ist. Unser Sozialarbeiter ist vor Ort und hält auch später Kontakt zu den Menschen. Wir versuchen sie in unsere Dauerunterkunft zu vermitteln, wo wir ein Beratungsteam haben, zu dem auch Anwälte gehören.

H&K:  Und was tut die Stadt?
Svedlin: Es gibt nahezu keine städtischen Unterkünfte und Notprogramme. Jeder, der das Unglück hatte, seine Wohnung zu verlieren und auf der Straße zu landen, wird in fast allen Fälle auch dort bleiben. Das ist ein Ticket ohne Rückfahrt.

H&K: Erhält Nachtasyl städtische Unterstützung?
Svedlin: Ja, sie beträgt fünf bis sieben Prozent unseres Budgets. Bis zu 40 Prozent kommen von Privatspendern, der Großteil von St. Petersburgern. Zehn Prozent sind Unternehmensspenden und 40 Prozent kommt aus internationalen Fonds aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz.

 

 

 

 

 

 

H&K:  Was ist momentan ihre größte Herausforderung?
Svedlin: Obdachlose Frauen und Männer am Leben zu erhalten. Erstens: Essen, zweitens: Wärme. Wir haben wie Hamburg auch einen Mitternachtsbus. Der versorgt täglich 150 Menschen. Aber das ist nicht genug. In ganz Russland gibt es nur 35 Organisationen, die sich um Obdachlose kümmern – vermutlich weniger als in Hamburg allein.

H&K:  Gibt es auch positive Geschichten?
Svedlin: Ja, glücklicherweise. Sie sind es, die uns motivieren. Es gab da diese ältere Frau und ihre Tochter, die Opfer von Immobilienbetrügern wurde. Sie wollte eigentlich bloß umziehen und stand am Ende auf der Straße. Das kommt leider ziemlich häufig vor. Es läuft so, dass sich die Betrüger als Kaufinteressenten vorstellen. Das machen sie meistens bei älteren Menschen. Die unterschreiben Verträge, erhalten aber nie Geld und sind ihre Wohnung los. Normalerweise hängt auch die Polizei mit drin. Sie bekommt auch ihren Anteil.

H&K:  Das hört sich unglaublich an!
Svedlin: Ja, das hört sich unglaublich an für Sie, aber es ist leider unsere Realität.

H&K:  Also hat die Frau ihre Wohnung auf diese Art und Weise verloren?
Svedlin: Ja, die Wohnung und alles. Sie hat nicht gewusst, wohin sie soll. Für ein paar Monate hat sie in ihrem Auto gelebt – zusammen mit ihrer Tochter. Sie haben versucht, einen Anwalt einzuschalten, hatten aber nicht genug Geld dafür. Dann kam der Winter und sie sind bei uns gelandet. Unsere Anwälte kümmerten sich sofort um den Fall. Und tatsächlich konnten sie nach über einem Jahr wieder in ihre Wohnung zurück: Der Verkaufsvertrag wurde für ungültig erklärt. Das war ein großer Erfolg. Normalerweise erreichen wir es nur in 3-6 Fällen pro Jahr, dass Leute wieder zurück können in ihre geklauten Wohnungen.

H&K: Gibt es in St. Petersburg eine Wohnungsnot?
Svedlin: Generell haben wir ausreichend Wohnraum, aber man braucht natürlich genug Geld. Unglücklicherweise ist die Miete bei uns auch sehr hoch: sogar so hoch wie hier in Hamburg, ebenso wie der Lebensunterhalt.

H&K: Viele Obdachlose im Hamburger Winternotprogramm kommen aus Osteuropa. Gibt es diese Wanderungsbewegungen auch bei ihnen?
Svedlin: Etwa zehn Prozent der Obdachlosen kommen aus dem Ausland. Die meisten aus ehemaligen Sowjetrepubliken wie Tadschikistan, Usbekistan oder Kirgisistan. Für sie ist es fast wie für Polen, die nach Deutschland gehen.

Interview: Simone Deckner
Fotos: Dmitrij Leltschuk, Viktor Yuliev/Dmitrij Sharomov, Nachtasyl

Weitere Informationen zu Nachtasyl: www.homeless.ru