Ein Obdachloser wird aus dem Hauptbahnhof verscheucht und reagiert verzweifelt. Für ihn und viele andere Obdachlose gibt es keine Betten. Das räumte jetzt sogar der Senat ein. In der Notunterkunft Pik As herrscht Notstand – das könnte Menschenleben kosten.
Dieses Video* befremdet, weckt Mitleid, macht wütend und ratlos. Ein Hamburger filmt, wie ein älterer Mann am Hamburger Hauptbahnhof von Sicherheitsmitarbeitern der Deutschen Bahn abgedrängt wird. Breitbeinig und über ihm aufragend zwingen sie ihn, das Gebäude zu verlassen. So etwas will sich eine Gruppe engagierter Hamburger nicht gefallen lassen. Zuletzt am Samstag demonstrierten 200 Personen gegen die Vertreibungspraxis. Auch Hinz&Kunzt kritisiert diese – wegen Menschen wie dem Mann im Film.
Er heißt Klaus Triebe, ist 72 Jahre alt, obdachlos und verzweifelt. Erst schreit er herum. Im Gespräch mit dem Filmer sieht man ihn den Tränen nah. Hausverbot habe man ihm erteilt. Klaus Triebe versteht nicht, warum. Und er weiß nicht, wo er hinsoll. Er „wohnt“ in der Notübernachtungsstätte Pik As. Wenn man das Wohnen nennen kann, denn Klaus Triebe schläft dort auf dem Fußboden.
In Hamburg herrscht kein Ausnahmezustand, es herrscht Notstand. Für Obdachlose ist kein Platz. Auf öffentlichen Plätzen nicht und in den eigens für sie eingerichteten Unterkünften auch nicht mehr. Eine Senatsantwort auf eine Kleine Anfrage der Linken-Bürgerschaftsabgeordneten Cansu Özdemir [PDF: Belegungszahlen im Winternotprogramm und im Pik As] bestätigt, was unter Wohnungslosen längst bekannt ist: Die Winterunterkünfte für Menschen, die auf der Straße bei Minustemperaturen täglich in Lebensgefahr schweben, sind voll oder überfüllt.
Weder in der Spaldingstraße noch im Pik As reicht die Zahl der Betten
In der Spaldingstraße, wo 230 Betten zur Verfügung stehen, schliefen im Dezember und in der ersten Januarwoche durchschnittlich 228 Personen, an manchen Tagen mehr als 240 Personen. Ab 22 Uhr werden Hilfesuchende „im Rahmen des Erfrierungsschutzes“ im „Tagesraum“ untergebracht. Eine irreführende Bezeichnung, denn tagsüber ist das Gebäude für Obdachlose geschlossen.
Wenn in der Spaldingstraße alle Plätze belegt sind, werden Obdachlose ans Pik As verwiesen. Wer nach einem gut halbstündigen Fußmarsch durch die Innenstadt dort ankommt, findet katastrophale Zustände vor. Die regulären 210 Schlafplätze in Mehrbettzimmern sind seit Monaten fest vergeben. Doch wer an die Tür des Pik As klopft beziehungsweise sich in den Pulk der Wartenden einreiht, darf nicht abgewiesen werden. Mit Zustellbetten gibt es in der Neustadt maximal 260 Schlafplätze. Dass das viel zu wenige sind, bestätigt die Senatsantwort auf die Kleine Anfrage der Linken.
An gerade mal fünf Tagen seit Beginn des Winternotprogramms im November reichten die Betten. Belegungszahlen von mehr als 300 Personen sind keine Seltenheit. Dutzenden bleibt nur die Möglichkeit, sich irgendwo hinzulegen, wenn sie die Nacht nicht auf der Straße verbringen wollen. Das berichteten Hinz&Kunzt und die Mopo bereits im November. Nun bestätigt auch der Senat: „Bei einer Belegung von derzeit über 260 Personen schlafen im Pik As einige obdachlose Menschen auch auf den Fluren.“
Mit einer Wolldecke auf dem Gang schlafen – oder auf der Straße
Die Lage verschärft sich weiter. Bewohner des Pik As berichten uns, dass manche sich im Aufenthaltsraum auf Tische legen, um nicht auf dem Boden schlafen zu müssen. An diejenigen, die einen Platz in einem der Flure zugewiesen bekommen haben, werden – so Bewohner – um 22 Uhr Wolldecken ausgegeben. Kissen gibt es nicht. Dichtgedrängt mit den Köpfen auf ihrem Hab und Gut liegen die Männer dort so, dass nur ein schmaler Gang bleibt, um in die Zimmer zu gelangen. „Es ist einfach menschenunwürdig“, sagt ein Obdachloser. „Aber erfrieren will ich auch nicht.“ Wen wundert es, wenn Obdachlose sich bei solchen Zuständen entscheiden, die Nacht im Freien zu verbringen.
Doch das bedeutet Lebensgefahr für sie. Sie drohen zu erfrieren. Wer zudem unter Alkoholeinfluss steht, schätzt seine Verfassung oft nicht realistisch ein. Das weiß auch Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) . „Ich appelliere an alle Obdachlosen, die bei diesen Minusgraden noch Platte machen, nachts in unsere Notunterkünfte zu gehen und in der Kälte möglichst keinen Alkohol zu trinken, da das sehr gefährlich werden kann“, sagte Scheele, nachdem Mitte Januar auf St. Pauli unter einer Brücke ein Toter gefunden worden war. Der Mann war unzureichend gegen Kälte geschützt.
Die Zustände führen dazu, dass im Pik As offenbar die Sicherheit der Hilfesuchenden zur Zeit nicht gewährleistet ist. Auf die Frage nach der Einhaltung des Brandschutzes antwortet der Senat, man arbeite „auf der Grundlage feuerpolizeilicher Begehungen und Beratungen durch durch das Landeskriminalamt“ an einem Sicherheitskonzept. „Wir machen uns große Sorgen, was im Pik As passiert, wenn dort ein Feuer ausbricht“, sagt Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer.
Früh morgens wieder auf die Straße
Doch das ist nicht die einzige Gefahr: Je mehr Menschen – darunter Alkohol- und Drogenabhängige und psychisch Kranke – so eng zusammen übernachten müssen, desto mehr Konflikte gibt es. So kommt es im Pik As jetzt häufiger zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Das berichten uns Bewohner. Auch die Zahl der Polizeieinsätze steigt. Ein Bewohner klagt: „Das ist kein Wunder, hier werden Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturen zusammengepfercht. Wir können uns gar nicht verständigen.“ Es werden auch Hausverbote ausgesprochen – obwohl der Unterkunftsbetreiber fördern und wohnen es in seinen Unterkünften so weit wie möglich vermeidet. Wer das Pik As verlassen muss, weil er zum Beispiel randaliert, hat in Hamburg keine Möglichkeit mehr, für die Nacht ein Dach über dem Kopf zu finden.
Die Situation ist für Obdachlose nicht nur nachts unerträglich. Wer einen Übernachtungsplatz ergattert, muss tagsüber nichtsdestotrotz zusehen, wo er bleibt. Denn tagsüber bleiben die Notschlafstellen ja geschlossen. Zwischen sieben und acht Uhr morgens müssen alle wieder raus auf die Straße. Tagesaufenthaltsstätten wie das Herz As sind dem Andrang schon im vergangenen Jahr nicht gewachsen gewesen und schlugen vor Winterbeginn Alarm. Dem Herz As wurde daraufhin eine neue halbe Personalstelle zugestanden. Unterkunftsleiter Andreas Bischke hatte gehofft, so nach Langem auch wieder Beratung für seine Gäste anbieten zu können. Doch viel verändert hat sich nicht, denn auch mit einem zusätzlichen Mitarbeiter gibt es im Herz As nicht mehr Platz. Die Forderung, neue Plätze zu schaffen, an denen Obdachlose sich im Winter tagsüber aufhalten können, kam beim Senat nicht an.
Menschen, die im und rund um den Hamburger Hauptbahnhof Schutz vor Kälte, Nässe und Wind suchen, werden wie Klaus Triebe verscheucht. Auch Flaschensammler und Bettler sind nicht willkommen. Möglich ist das seit Oktober vergangenen Jahres. Sicherheitskräfte setzen die restriktive Hausordnung der Bahn durch. Das dürfen sie, weil das Bezirksamt Mitte und die Wirtschaftsbehörde es ihnen in einem Vertrag erlaubt haben. Die Hausordnung verbietet eine Menge: „Sitzen und Liegen auf dem Boden“ zum Beispiel oder „Durchsuchen von Abfallbehältern“. Auch Betteln, Rauchen und „übermäßiger Alkoholkonsum“. Betroffen sind vor allem arme Menschen – darunter besonders diejenigen, die sonst nirgends hin können.
* Ursprünglich hatten wir das Youtube-Video in diesen Artikel eingebettet. Wir haben es entfernt, weil wir aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen darum gebeten wurden. Die beschriebene Szene finden wir nach wie vor kritikwürdig.
Text: Beatrice Blank
Fotos: Screenshot, BEB, Mauricio Bustamante