Hotten, schwofen, abrocken – das ist nichts mehr für über 60-Jährige? Wer so denkt, sollte auf den Faltenrock-Abenden im Gängeviertel vorbeischauen. Dort ist zu erleben, dass Tanzen kein Alter kennt.
(aus Hinz&Kunzt 239/Januar 2013)
17.10 Uhr, am Eingang der Jupi-Bar im Gängeviertelsteht ein freundlich lächelnder Türsteher und fragt die ankommenden Gäste nach ihren Ausweisen. Wer unter 60 ist, muss leider draußen bleiben. Es sei denn, er kommt in Begleitung von jemandem, der mindestens über 60 Jahre Lebenserfahrung verfügt. Das ist kein Scherz, das ist gut gemeinter Ernst.
Wer es an dem netten Türsteher vorbeigeschafft hat, findet sich in einem gemütlichen Raum wieder, der den etwas verstaubten Charme vergangener Zeiten verströmt: unverputzte Wände, Retrotapeten, uralte, knarzige Holzdielen, Regale, die vom Boden bis zur Decke mit Büchern gefüllt sind. Dazwischen finden sich immer wieder Details, die eigentlich nicht hierher gehören und gerade deshalb so wunderbar passen: etwa das WOW aus großen Leuchtbuchstaben, das über der Eingangstür hängt. Links vom Tresen führt eine Treppe hinauf zu einer Empore mit Sitzecke, dahinter ein gemütliches Hinterzimmer. Von dort oben bietet sich ein exzellenter Ausblick auf einen Tanzabend der besonderen Art.
„Seit Jahren reden wir über den demografischen Wandel und über die dramatischen Geburtenrückgänge hierzulande“, konstatiert Hanna Kowalski von der Initiative Gängeviertel: „Und trotzdem tun die meisten so, als würde es keine alten Menschen in unserer Gesellschaft geben, und blenden die Bedürfnisse dieser Bevölkerungsgruppe komplett aus.“ Tatsächlich ist es mit dem Freizeitangebot für Senioren meist nicht sonderlich gut bestellt. Auch die Mutter von Kristina Sassenscheidt reagiert auf die gelegentliche Frage ihrer Tochter, ob sie am Abend gemeinsam mit ihr ausgehen wolle, oft mit den Worten: „Oh, lieber nicht. Da komme ich mir viel zu alt vor.“ Eine Aussage, die Kristina nachdenklich stimmte und der wenig später ein genialer Einfall folgte: Warum nicht Tanzabende für Senioren ausrichten?, dachte sich die 35-jährige Architektin, die für das Hamburger Denkmalschutzamt Öffentlichkeitsarbeit betreibt, und erzählte davon Freundinnen und Aktivistinnen aus dem Gängeviertel. Die Idee stieß auf fruchtbaren Boden, der Name war auch schnell gefunden: Faltenrock – ein ziemlich genialer Name für eine Veranstaltung, die Menschen jenseits jugendlich-frischer Hipsterness Raum zum Flirten und Tanzen bietet.
Denn mit sprödem Tanztee-Ambiente haben diese Abende absolut nichts gemein. „Das Tolle ist nicht nur der Generationenaustausch und die Bereicherung, wenn Jung und Alt aufeinandertreffen, sondern auch die soziale Durchmischung, die stattfindet. Die Menschen sind in einer Lebensphase, in der persönliche Vitalität weit mehr zählt als irgendein beruflicher Werdegang“, erzählt Kristina Sassenscheidt. Und so kommen von der ehemaligen Professorin bis zum Taxifahrer Senioren aus sämtlichen sozialen Schichten jeden ersten Sonntag im Monat aus ganz Hamburg ins Gängeviertel.
So ist es auch an diesem Sonntag: Nach und nach füllt sich der rot beleuchtete Raum, der nicht weit entfernt von der Laeiszhalle liegt. Subkulturelles Discofeeling anstelle von Hochkultur. Schummerige Barbeleuchtung und Discokugel statt Kristalllüster, Prosecco oder ein Kakao mit Schuss statt Champagner. Einen Abend lang schwoft hier die alte Garde zu Country, Jazz, Swing und Rock ’n’ Roll. Oder zu Oldies, die die Gäste in ihrer Jugend gehört haben und die ihnen heute, gute 40, 50 Jahre später, noch genau dieselben Glücksgefühle bescheren wie einst.
Kaum ertönen die ersten Takte, schwofen auch schon ein paar Damen über die Tanzfläche. Die Männer, die eindeutig in der Minderheit sind, stehen noch ein wenig unentschlossen daneben und betrachten das bunte Treiben zunächst lieber aus der Ferne – um gut eine Stunde später ebenso kräftig mitzumischen. Dann tanzen die Männer und vor allem Frauen mit einem Enthusiasmus und Durchhaltevermögen, von dem sich manch 20-Jähriger etwas abgucken könnte.
Wie so oft legt Rita auf, besser bekannt als „Señor Rita“, und bringt die Meute zum Tanzen. Ausgestattet mit einem Schnurrbart und feinsten Vinyl-Scheiben von Elvis, den Beatles oder Rolling Stones. „Die Platten habe ich von meinem Vater geschenkt bekommen, und dies ist genau der richtige Ort, um sie zu spielen“, erzählt die 34-jährige Gängeviertel-Aktivistin und Faltenrock-Namensgeberin. Rita legt Boogie, Twist und Rock ’n’ Roll auf und hat regelmäßig Co-DJs dabei, die auch Soul, Funk, Rock und Pop aus den 70ern spielen. Dazwischen gibt es immer mal wieder eine Schmusetanz-Einlage. „Aber die meisten wünschen sich eher schnelle, fetzige Songs und sind hier, um sich auf der Tanzfläche ordentlich auszutoben.“
Daran besteht auch an diesem Abend kein Zweifel. Kaum ein Gast bleibt still sitzen oder steht nur herum. Bis kurz nach 20 Uhr zwischen Paul McCartney und Louis Armstrong ein gigantischer Topf selbst gemachter Suppe mit Brot und bunt zusammengewürfelte Löffel und Schüsseln aufgetischt werden. Jeder darf sich selbst nehmen und nach eigenem Ermessen einen Beitrag in die Kasse legen. Tanzen macht hungrig. Auch daran wird hier gedacht.
Ob herausgeputzt im edlen Zwirn und feinster Abendgarderobe oder eher sportlich-leger gekleidet – bei den Faltenrock-Abenden gibt es keinen Dresscode. Marthe trägt heute Abend zu ihren leicht zurückgelegten Haaren einen schwarzen Samtblazer, einen dunklen Rollkragenpullover und eine Silberkette mit einem auffälligen Anhänger. Künstlerlook. Das passt – die 66-Jährige ist die ehemalige Gründerin des ersten Hamburger Kabaretts Montmarthe und Mitbegründerin der Initiative Eppendorf, die den Abriss von fünf historischen Häusern verhindern will. Sie ist bereits zum fünften Mal auf einer Faltenrock-Veranstaltung. Warum? „Ich bin nach einer Vernissage hier gelandet. Ich wurde von einer Künstlerin mitgeschleppt und fand die Atmosphäre auf Anhieb überwältigend und sehr herzlich.“ Dann erzählt sie, dass eines Abends eine Frau auf Krücken hereingekommen sei. „Sie hatte gerade eine neue Hüfte implantiert bekommen – und schmiss plötzlich ihre Krücken in die Ecke und hat mit mir das Tanzbein geschwungen, als sei nie etwas gewesen.“ Sie schlussfolgert: „Wer in dem Alter noch so tanzt, war immer beweglich in seinem Leben – auch geistig.“
Alma (70), eine Frau mit kurzen, grauen Haaren und verschmitzt-fröhlichen Augen ist ebenfalls schwer in Tanzlaune. Sie ist bereits zum achten Mal hier. „Ich finde es ganz großartig, dass das Ganze von jungen Leuten veranstaltet wird. Dass die Jugend sich die Mühe macht, uns Senioren solch einen schön Abend auszurichten. Und dass auf ehrenamtlicher Basis, ohne dass wir Eintritt bezahlen müssten und sie Geld da-ran verdienen würden. Also, das finde ich so toll, das kann ich gar nicht sagen. Das müssen Sie unbedingt aufschreiben!“
Schon ist sie wieder in Richtung Tanzfläche verschwunden, auf der sie von dem gleichaltrigen Volker umhergewirbelt wird. Der sieht aus wie eine Mischung aus Roger Moore und Jack Nicholson und hat sich zuvor als James Bond vorgestellt. In Sachen Charisma und Ausstrahlung kann er mit allen dreien locker mithalten. „Wir waren die schönsten Jungs von St. Pauli, sämtliche Schwulen waren hinter uns her“, erzählt er und lacht.
Nicht weit von ihnen entfernt stehen Karin, Moni und Margita (alle Ende 60, Anfang 70) an der Bar und trinken Schnäpse. Karin und Margita haben beide ihre Männer verloren und sich – nach mehr als 30 Jahren, in denen sie sich komplett aus den Augen verloren hatten – wieder als Freundinnen zusammengefunden. Nun erkunden sie gemeinsam ihren neuen Lebensabschnitt. Norbert (61), der heute ohne seine Frau gekommen ist, guckt sich derweilen um, aber er erblickt niemanden, der „seiner Kragenweite“ entspricht. Er und seine Frau haben von Anfang an eine offene Beziehung geführt und sind heute – knapp 40 Jahre später – noch immer ein Paar. Ein Paar, das oft und gerne ausgeht. „Aber das müssen wir jetzt mal wieder ein wenig einschränken. Dreimal die Woche Geburtstage und private Feiern sind auf Dauer vielleicht doch ein bisschen viel“, findet er.
Beim Rausgehen erzählt Türsteher Christian, dass sehr viele der heutigen Gäste Besucher der ersten Stunde sind und zum Stammpublikum gehören. Und dass auf den Faltenrock-Abenden schon so einige Verliebtheiten und Beziehungen entstanden sind. Einmal hat es sogar eine Art Trauung gegeben, bei der unter jubelndem Beifall das Tanzpaar des Abends gekürt wurde. Inklusive Überreichung eines Trockenblumenstraußes und einer anschließenden Breakdance-Einlage des 74-jährigen Zeremonienmeisters Immo – auch er ist ein Stammgast. Und Charmeur vor dem Herrn. Mit genügend Lebenserfahrung fällt halt auch das Flirten leichter.
Text: Lesley Sevriens
Foto: Dmitrij Leltschuk
Faltenrock: Ab Februar wieder an jedem ersten Sonntag eines Monats, ab 17 Uhr, in der Jupi-Bar, Caffamacherreihe 37–39/ Ecke Speckstraße, Eintritt frei. Wer interessiert ist oder sich ehrenamtlich engagieren möchte, kann sich für den Newsletter anmelden: faltenrock-tanzabend@web.de. Da das vielfältige Nischen-Kulturprogramm des Gängeviertels von freiwilligen Spenden lebt, sind diese und Engagement jederzeit sehr willkommen. Mehr Infos unter: www.das-gaengeviertel.info