Zu Besuch unter Hamburgs berühmter Brücke.
(aus Hinz&Kunzt 237/November 2012)
Ein goldener Herbsttag. Wie geschaffen für einen Besuch bei den Kennedys. So nennen wir die Bewohner unter der gleichnamigen Brücke: außer unseren Gastgebern Jürgen und Fritz noch sechs Männer und ein Frau. Nicht zu vergessen: Hündin Paula. Wir sitzen an der Alster, Hündin Paula immer dabei. Fähren ziehen vorüber: Die meisten Kapitäne grüßen rüber, machen einen Schnack. Man kennt sich. Ein Schwan schwimmt heran, will von Fritz gefüttert werden. Wenn das Wetter so toll wie heute ist, dann ist das hier Idylle pur. „Das Schönste ist, dass man hier seine Ruhe hat“, sagt Fritz. Und Jürgen reckt sich, weist mit gönnerhafter Miene auf die Alster: „Und dann haben wir ja auch einen 164 Hektar großen Swimmingpool vor der Haustür.“
Die Kennedybrücke und die Kersten-Miles-Brücke an der Helgoländer Allee auf St. Pauli sind wohl die berühmtesten Platten Hamburgs, wie man die Schlafplätze von Obdachlosen nennt.
Aber natürlich sind ihre Bewohner ganz unterschiedlich. Passend zum Ort spürt man unter der Kersten-Miles-Brücke die Nähe zum Kiez. Viel öfter wechseln dort die Bewohner, in der Regel sind sie auch jünger. Die Kennedys dagegen sind fast schon eine Familie. Viele von ihnen sind schon seit sechs Jahren und länger zusammen auf der Platte. Entsprechend wird auch – bei aller Freiheit des Einzelnen – vieles gemeinsam entschieden. Zum Beispiel: wer überhaupt unter der Brücke schlafen darf. Der Platz ist begrenzt. Mit dem Bezirk Mitte gibt es eine Art ungeschriebene Übereinkunft, dass nur so viele dort übernachten, dass die Zelte unter die Brücke passen. Im Grunde ist das in ihrem Sinne. So bleibt die Gruppe überschaubar. Ordentlich aufgereiht stehen die Zelte da, kein Müll weit und breit. „Wir achten darauf, dass hier alles ordentlich ist“, sagt Jürgen.
Auch die Sache mit dem Alkohol ist geregelt: Keiner muss hier abstinent leben, aber es wird nicht geduldet, „dass hier Leute angepöbelt werden oder dass gar jemand gewalttätig wird. Zweimal“, so Jürgen streng, „gibt’s ’ne Abmahnung, wer es dann noch nicht kapiert hat, muss gleich seine Klamotten packen – und Tschüssikowski.“ Fritz fügt hinzu: „Wer gewalttätig wird, muss sofort gehen, da haben wir ähnliche Regeln wie bei Hinz&Kunzt.“ Ist aber bisher nur ganz selten vorgekommen.
Entsprechend klar und entsprechend friedlich ist das Zusammenleben. Sonntags wird gekocht, meistens macht das Jürgen. Alles gibt’s da: vom Eintopf bis zum Spargel, von der Kohlroulade bis zu Fisch. Hängt auch ein bisschen davon ab, „was die Landeszentralbank“ so hergibt. Viele Brückenbewohner verkaufen Hinz&Kunzt. Und sie haben beschlossen, alles Kleingeld unter 50 Cent, das sie einnehmen, zu sammeln. So bekannt sind die Kennedys, dass die Landeszentralbank ihnen das Kleingeld abnimmt und gegen größere Münzen oder Scheine eintauscht.
Manchmal gibt es auch andere lukrative Einnahmen: Wir werden Zeuge, wie eine Fähre einen Rettungsring verliert. Fritz schwingt sich auf sein Fahrrad, mit seiner Angel – klar, dass die Männer hier auch angeln – und rast über die Brücke ans andere Ufer. Außer Atem kommt er wenig später mit dem Rettungsring wieder. „Da gibt’s ’ne fette Belohnung, wenn wir den zur Wasserschutzpolizei zurückbringen“, jubelt er.
Wie gesagt, als wir an diesem goldenen Oktobertag zusammen dasitzen, ist es unglaublich schön. Aber Jürgen, Fritz und Paula wollen im Winter ins Hinz&Kunzt-Winternotprogramm. Bei Redaktionsschluss steht nicht fest, wo es stattfinden wird, nur dass es eins geben wird. Die Sparda-Bank hat uns dafür schon Geld zugesagt und viele Spender ebenfalls. Fritz und Jürgen, beide 54, fällt es schwer, ihre Gruppe zu verlassen, „aber man wird ja nicht jünger“.
Besonders der Herbst und der Winter macht ihnen zu schaffen: „Schlimm wird’s, wenn es nasskalt ist – und dann der Wind!“, sagt Jürgen. Dann hilft nur, sich ins Zelt zu verkriechen. Mit so vielen Isomatten wie möglich und mit so vielen Schlafsäcken wie möglich. „Die meisten von uns haben drei oder vier.“
Besonders warnt Jürgen davor, gegen die Kälte antrinken zu wollen. „Da merkst du nichts mehr – und wachst am nächsten Tag nicht mehr auf.“ Nur ein paar Kennedys wollen ins Hinz&Kunzt-Winternotprogramm – die meisten bleiben unter der Brücke. Sie wollen auf „Hamburgs beste Platte“ aufpassen. Und auch Jürgen, Fritz und Paula werden im Frühling wieder dazustoßen. „Es sei denn, wir haben bis dahin eine bezahlbare Wohnung für uns alle gefunden“, sagt Jürgen. Aber damit rechnet niemand ernsthaft.
Text: Birgit Müller
Foto: Mauricio Bustamante
Winternotprogramm: Am 1. November, also lange nach Redaktionsschluss, startet auch das staatliche Winternotprogramm – mit zunächst 160 Plätzen in der Spaldingstraße sowie 92 Plätzen in Containern bei Kirchengemeinden. Wir befürchten, dass diese Plätze schon in der ersten Woche vergeben sind. Außerdem hatte der Quartiersbeirat Münzviertel eine Reduzierung der Plätze in der Spaldingstraße von 160 auf 100 Plätze gefordert. Was von der Behörde schon abschlägig beschieden wurde. Wir halten Sie über die aktuelle Entwicklung unter www.hinzundkunzt.de auf dem Laufenden.