Strategien gegen die Einsamkeit: dichten, fernsehen, Enten füttern
(aus Hinz&Kunzt 138/August 2004, Die Verkäuferausgabe)
„Einsamkeit ist der Weg, auf dem das Schicksal den Menschen zu sich selber führen will“, dichtete Hermann Hesse. Einsamkeit ist ein unbequemer und zäher Wegbegleiter vieler Poeten und Künstler, und nicht alle können damit umgehen. Zwei Hinz & Künztler über ihre Erfahrungen mit Einsamkeit und ihre Flucht vor Ohnmacht und Hilflosigkeit.
Der Künstler
Wenn Erich zu Hause in Kirchsteinbek in seinen 43 Quadratmetern am Wohnzimmertisch sitzt, schaut er auf ein großes Gemälde an der beigefarbenen Wand, das er selbst gemalt hat. Konzentrische Kreise und Spiralen wirbeln umeinander, die Farben reichen von braun bis lila. Zu dem Motiv hat ihn seine Suche nach dem Ursprung des Lebens inspiriert.
Der 51-Jährige hat viel Zeit, über Philosophie nachzudenken und Bilder zu malen, denn er lebt allein. Seine Frau hat ihn vor zehn Jahren verlassen und die gemeinsamen Töchter mitgenommen. Fast 20 Jahre lebten sie zusammen, in Burgdorf bei Hannover und in Hamburg, aber irgendwann wurden die Spannungen immer größer. Am Ende wurde er krank, die Enttäuschung schlug ihm auf Magen und Seele. Der gelernte Heizungsbauer fühlte sich verletzt und allein: „Auf einmal hast du nichts mehr, keine Frau, keine Kinder, niemand in der Wohnung. Wenn ich die Wohnungstür aufmache, erschlägt mich manchmal die Einsamkeit.“ Ein beklemmendes Gefühl, das ihm die Luft abschnürt und ihn zu erdrücken droht. Dann fehlt ihm jemand zum Unterhalten. Jemand, mit dem er die kleinen und großen Erlebnisse des Alltags teilen kann. Einfach nur reden und nicht nur gegen die Wand, auch wenn diese schön hell ist und hilft, Depressionen vorzubeugen. Aber da ist niemand. Nur die Stille und die innere Unruhe. „Es fühlt sich an wie ein Motor, der ins Stottern gekommen ist“, so drückt Erich es aus.
Früher war er nie allein. Hatte drei Geschwister und zwei Dutzend Kumpels in seiner Clique, mit denen er auf dem Dorfplatz abhing. Bis die Drogen dazu kamen: Alkohol, LSD und Marihuana. Dann stieg Erich aus und war zum ersten Mal allein. Allein unter vielen Bekannten, das war noch auszuhalten. Er zog nach Berlin in ein Arbeiterwohnheim. Dort fühlte er sich zwar ein bisschen einsam, lernte aber schnell Leute kennen. Mit einem Bekannten kochte er abends zusammen auf dem Zimmer, bis der ihm die Wertsachen klaute und Erich sein Vertrauen betrogen sah. Auch von vielen ehemaligen „Freunden“ fühlt Erich sich enttäuscht. Er half oft, wenn jemand Geld oder eine starke Hand brauchte, unterstützte zum Beispiel einen Freund beim Bau seines Tanzstudios. Später war er selbst in der Klemme. Als er sich vom Tanzstudio-Besitzer 3000 Mark borgen wollte, zeigte der ihm den Vogel. „Wenn du denkst, du hast Freunde, ist keiner da“, bemerkt Erich bitter.
Heute vermeidet er das Wort, bezeichnet die Menschen um ihn herum lieber als Bekannte. „Gute Bekannte sind besser als gute Freunde. Die können einen nicht so enttäuschen und verletzen.“ Sie können aber auch nicht so gut die Einsamkeit teilen, die Erich fühlt. Bekannte sind weniger greifbar, sind beschäftigt, nehmen sich die Zeit nicht. Wenn seine beiden Töchter zu Besuch kommen, bringen sie Leben in die Bude und in sein Herz. Für ein paar Stunden blüht er auf. Wenn die Tür hinter ihnen ins Schloss fällt, legt sich die Einsamkeit wieder um ihn wie ein zu großer Mantel.
Erinnerungen kommen hoch, die Gefühle beschäftigen ihn. Erich schreibt seine Gedanken auf, dichtet, malt Bilder oder hört Musik. Manchmal läuft der Fernseher, aber das Programm zieht ihn oft runter. Dann gibt er sich einen „Tritt in den Arsch“ und geht vor die Tür. Läuft vor der Einsamkeit weg, ins Leben. Besucht soziale Einrichtungen in den benachbarten Stadtteilen, schaut bei seinem Künstlerkollektiv in Mümmelmannsberg vorbei oder verkauft Hinz & Kunzt. „Im Sommer ist es okay, nur im Winter wird es schlimm.“ Aber Erich bleibt Optimist: „Das Positive im Leben überwiegt.“
Bei seinen Stadtbummeln hält er auch Ausschau nach einem Ort, um seinen Traum einer großen Wohngemeinschaft zu verwirklichen. Die richtigen Leute muss er noch finden. „Freundschaften müssen sich ergeben, die lassen sich nicht erzwingen.“
Der Puzzle-Spieler
Hätte Peter als 17-Jähriger nicht versucht, 70 Kilo Hasch von Marokko nach Spanien zu schmuggeln, wäre ihm der Aufenthalt in der Isolationszelle erspart geblieben. Dort ist es richtig einsam, die Wände türmen sich dicht um den Insassen auf. Zehn Monate blieb Peter in Isolationshaft, dann wechselte er in eine Gemeinschaftszelle der Haftanstalt in der spanischen Enklave Ceuta, auf dem Nordzipfel von Marokko. Schlief zusammen mit 70 Mann in einem Saal, der „Brigade“. Da blieb wenig Platz für Einsamkeit.
Spanisch konnte er, weil er vorher in der Nähe von Malaga mit Hippies in einem Dorf gewohnt hatte. Dort hatte er eine Burg besetzt, sich eingerichtet und begonnen, als Tellerwäscher in einem Bistro zu arbeiten. Später fing er an, in kleinen Mengen Hasch an Touristen zu verkaufen. Sparte so das Geld zusammen für den großen Deal – für den er acht Jahre ins Gefängnis ging. „So etwas würde ich heute nie wieder tun“, sagt er jetzt, Jahre später. „Für kein Geld der Welt. Drogen zu verkaufen, gar harte, ist einfach link.“
Als Koch für die Wärter verdiente er sich Geld und hatte immer genug zu rauchen. „Das beruhigt die Leute, deshalb haben die Wärter es geduldet.“ Einsamkeit war für ihn auch in jener Zeit ein Fremdwort.
Mit 25 Jahren kam er frei, zog wieder nach Deutschland. Heiratete ein Jahr später in Lüneburg und zog mit seiner Frau drei Kinder auf. Geld hatte er durch einen Job als Kraftfahrer. Doch von den Drogen kam er nicht los. Um sich den Stoff zu beschaffen, stahl er sogar Geld von seiner eigenen Familie.
Nach fünf Jahren scheiterte die Ehe. Peter kam wieder in den Knast. Danach wohnte er in Wohngemeinschaften der Drogenhilfe, mit anderen zusammen. 1996 zog er zum ersten Mal allein in eine Wohnung – und sofort fiel ihm die Decke auf den Kopf. Durch seine zahlreichen Knastaufenthalte hatte er nur noch wenig Freunde, vertraute kaum jemandem. „Eigentlich bin ich gern mal allein, würde mich sogar als Einzelgänger beschreiben. Aber Einsamkeit und Alleinsein sind zwei Paar Schuhe.“
Wenn Peter heute allein ist, muss er etwas unternehmen. Um die Zeit zu vertreiben, läuft den ganzen Tag der Fernseher oder das Radio, oft spielt er auch Computerspiele. „Diese Geräusche beruhigen mich.“
Wenn er die innere Anspannung mal nicht aushält, flieht er nach draußen. „Sobald ich aus der Wohnung raus bin, fühlt es sich an, als ob ein Schalter umgelegt ist. Ich spüre Freiheit statt Enge.“ Dann geht er an den Hafen, füttert die Enten oder angelt. Die Natur lenkt ihn ab. Auch das Abhängen mit Freunden hilft dabei. Seit kurzem hat er sich ein neues Hobby zugelegt: puzzeln. Auf Flohmärkten kauft er die Motive: „Am liebsten Schlösser, Wasser und Schiffe.“ In seiner Wohnung puzzelt er dann die Welt von draußen in 1000 Teilen wieder zusammen.