Petros Markaris studierte in Wien Volkswirtschaft und übersetzte Goethe ins Griechische. Spät erst fing er an, Krimis zu schreiben. Sein Held, der Kommissar Kostas Charitos, hat es in diesen Tagen doppelt schwer: Er muss seine Diebe und Mörder im Griechenland der Finanzkrise fangen. Das Land, das man trotzdem besuchen sollte.
(aus Hinz&Kunzt 236/Oktober 2012)
Hinz&Kunzt: Herr Markaris, Sie sind der erfolgreichste Krimiautor Griechenlands und werden zugleich als Experte für die Griechenlandkrise angesehen. Zu Recht?
Petros Markaris: Ich weiß nicht, ob ich ein Experte bin. Ich weiß aber, dass ich mich oft in Griechenland, aber auch im Ausland zur griechischen Krise äußere. Und ich versuche immer, die Dinge klarzusehen, ohne billige Ausreden. Ich versuche klarzusehen, was da falsch gelaufen ist und welche Fehler zu der Krise geführt haben. Ich versuche auch zu verstehen, ob Europa die Krise gut oder schlecht meistert. Es gibt ein Buch von mir: „Finstere Zeiten“. Da sind alle meine Artikel über die Krise gesammelt, die ich auf Deutsch geschrieben habe.
H&K: Ist man als Schriftsteller schlauer?
Markaris: Schlauer ist man nicht. Aber Schriftsteller haben ein Talent, das vielleicht anderen Leuten fehlt: Sie stellen die richtigen Fragen. Sie wissen die Antworten nicht, das ist Sache der Politiker. Wissen Sie, wenn man sich, besonders in Griechenland, diese ständigen Medienberichte anhört, da hat man keinen klaren Blick mehr. Da ist man total verwirrt. Und da können Schriftsteller helfen, indem sie erhellende Fragen stellen.
H&K: Erhellend ist auch, wie Ihr neuer Krimi beginnt: Vier Frauen werden tot aufgefunden. Nur – sie haben sich selbst das Leben genommen. Ist es so schlimm um Griechenland bestellt?
Markaris: „Zahltag“ ist mein einziger Roman, in dem am Ende sieben Selbstmorde stattfinden. Nicht viele, sondern – sieben. Ich bekomme immer wieder zu hören, besonders von den Griechen: „Ach, du bist immer so pessimistisch. Du siehst immer nur die schwarze Seite der Dinge. Du bist nie zufrieden, du findest immer ein Haar in der Suppe.“ Das habe ich mir schon nach meinem Krimi „Live“ anhören müssen, der von dem Bauboom zu den Olympischen Spielen 2004 handelt. Jetzt sehen sie, dass das ganze Unheil mit den Olympischen Spielen und deren ungeheuren Kosten anfing. Aber ich hörte anfangs auch, als „Zahltag“ in Griechenland erschien: „Ach Gott, diese Selbstmorde, so weit sind wir doch nicht! Du übertreibst.“ Bis sich ein Rentner auf dem Syntagma-Platz in Athen das Leben genommen hat. Natürlich kommen die Selbstmorde. Wenn Menschen aussichtslos und verzweifelt sind, wenn sie nicht überleben können, wenn ihnen das Geld immer weiter gekürzt wird – was bleibt einem dann? In den letzten zwei Jahren gab es in Griechenland eine Erhöhung der Selbstmordrate um 33 Prozent. Das können Sie übrigens auch in Sizilien und leider auch in Spanien erleben.
H&K: Im Roman „Zahltag“ geht es nicht nur um einen mordenden, selbsternannten Steuerfahnder, sondern auch um die gut ausgebildete Tochter Ihres Kommissars, die verzweifelt, weil sie keinen Job findet. Gibt es das auch in Ihrer Familie?
Markaris: Meine Familie, das ist meine Tochter und meine Schwester. Meine Tochter lebt in Istanbul, und es geht ihr gut. Meine Schwester ist Rentnerin, aber ihr Mann, mein Schwager, der hat ein Geschäft, verkauft Kinderkleidung, und er kämpft ums Überleben. Er ist nicht der Einzige: Wenn man alles gekürzt bekommt, sodass es nur noch für die Miete reicht, dann hat man kein Geld mehr, um Kleidung zu kaufen. Ich selber bin nicht betroffen, weil ich einen Teil meiner Bücher im Ausland verkaufe. Wäre ich allein vom griechischen Buchmarkt abhängig, müsste ich mich sorgen: Denn der Buchmarkt ist bei uns um 50 Prozent runtergegangen.
H&K: Ihr Mörder tötet wie im antiken Griechenland mit dem Gift der Schierlingspflanze, und er legt seine Opfer in antiken Stätten ab. Wie ist das zu verstehen?
Markaris: Man idealisiert heute die griechische Antike als eine goldene, heile Zeit. Aber lesen Sie mal die alten Texte: Da ist viel von den korrupten Athenern die Rede. Gleichzeitig haben diese korrupten Athener große Kunstwerke geschaffen. Diese Widersprüchlichkeit gibt es heute nicht: Heute gibt es nur die Korruption – ohne die Kunstwerke.
H&K: In Ihrer Person vereinigen sich verschiedene Identitäten …
Markaris: Ich bin väterlicherseits Armenier. Mütterlicherseits bin ich Grieche. Und ich bin in Istanbul geboren und aufgewachsen. Wenn Sie mich jetzt fragen würden, wo ist meine Heimat – also ich kann mit dem Wort „Heimat“ nichts anfangen.
H&K: Interessanterweise möchten in Ihrem neuen Roman aber gerade die jungen Leute unbedingt in Griechenland bleiben, sehen es als ihre Heimat an …
Markaris: Das ist das, was ich den jungen Leuten erzählen möchte: Bleibt und kämpft! Die jungen Leute von heute, das sind doch nicht die Gastarbeiter der 60er-Jahre. Die hatten gerade mal einen Grundschulabschluss und kamen nach Deutschland zum Arbeiten, um sich ein bisschen Geld zusammenzuverdienen – um dann wieder zurückzugehen, um vielleicht einen kleinen Laden aufzumachen. Die jungen Leute von heute haben dagegen studiert. Die haben einen Magister, sie haben unter Umständen promoviert, sie sind in jedem Fall weltoffen. Wenn sie gehen, dann kommen sie nie zurück. Das bedeutet, dass dem Land durch die Krise eine ganze Generation abhandenkommt. Mein Problem mit dem Umgang mit der Krise ist, dass man die Zahlen sieht, aber die Menschen verloren gehen. Alle diese Experten, Politiker und Ökonomen, die sehen die Zahlen, ob sie gut oder schlecht aussehen – aber die Menschen sehen sie nicht. Was nützt es, wenn die Zahlen gut aussehen, aber die Menschen leiden? Ich frage mich: Was ist der Euro? Ist das unsere Seele? Ist unsere Seele eine Währung? Ich weiß es nicht. Ich bin Autor, ich kümmere mich um die Menschen.
H&K: Sie haben Goethe ins Griechische übersetzt und Bertolt Brecht. Wie kam es zu dieser Begegnung mit der deutschen Literatur?
Markaris: Ich habe meine Gymnasialzeit in Istanbul an einer deutschsprachigen Schule absolviert, bei den österreichischen Schulbrüdern. Anschließend habe ich fünf Jahre in Wien studiert und so ist mir die deutsche Kultur viel näher als die griechische. Von Brecht habe ich nicht nur seine Theaterstücke übertragen, sondern auch Lyrik und Prosa. Meine Beschäftigung mit Brecht hat mich zu einem Schriftsteller gemacht, der immer politisch denkt und sich auch äußert, was heute nicht selbstverständlich ist. Und so erzählen meine Bücher, die Krimis sind, nur vordergründig von Mord und Totschlag: Mir geht es um Politik und die Abbildung der sozialen Realität.
H&K: Hat sich Ihr Athen, wo Sie leben und der Schauplatz Ihrer Romane ist, verändert?
Markaris: Ja, und zwar zum Schlechten. Man sieht überall leere Geschäfte. Man geht Straßen entlang, wo die Geschäfte geschlossen haben und die, die noch offen sind, sind leer. Es ist ein deprimierendes Bild, ein trübes Bild. Dazu kommt, dass Athen ein großes Migrantenproblem hat: Alle Migranten, die in Griechenland landen, kommen nach Athen, weil sie dort auf Arbeit hoffen. Aber wegen der Krise gibt es auch dort keine Arbeit mehr für die Migranten. Sie haben kein Geld, um weiterzufahren. Sie haben kein Geld, um zu bleiben. Sie befinden sich in einer Falle und so laufen sie einfach in der Stadt herum – hilflos, wie in einem Käfig.
H&K: In „Zahltag“ staut sich in Athen ständig der Verkehr, weil die Menschen überall demonstrieren. Ist das aktuell noch so?
Markaris: Diesen Kampfgeist sieht man immer weniger. Wenn mit jeder neuen Kürzung die Kaufkraft runtergeht, da können Sie von den Leuten nicht erwarten, dass sie ihren kämpferischen Geist beibehalten. Das ist nicht so einfach. Das Problem ist, dass die Leute keine Perspektive haben. Wenn man gesagt hätte: Zwei Jahre noch, dann wird es besser, dann könnte man es ja aushalten. Aber es ist ja völlig ungewiss, wann die Krise vorbei ist. Übrigens: In meinem nächsten Roman zur Krise, an dem ich gerade schreibe, gibt es keine Autostaus mehr. Die Menschen können das Benzin nicht mehr bezahlen.
H&K: Nun sind wirtschaftlich schlechte Zeiten manchmal gute Zeiten für die Kunst, oder?
Markaris: Ja und nein. Ja, weil es viele junge Künstler gibt, die sich wirklich mit der Krise auseinandersetzen, im jungen Theater, in der bildenden Kunst. Es gibt junge Filmregisseure, die mit ganz kargen Mitteln sehr gute Filme machen. Eigeninitiative gibt es zum Glück viel. Andererseits ist es immer so, übrigens auch in Deutschland: Wenn gekürzt wird, dann zuerst in der Kultur und in der Bildung. So ist das eben. Staatliche Subventionen, die sind tot. Das können Sie gleich vergessen: Die Theater, die staatliche Mittel bekommen haben, die haben seit drei Jahren keinen einzigen Euro bekommen.
H&K: Es gab in diesem Sommer bei uns viele Schlagzeilen, dass deutsche Touristen wegen Merkels Euro-Politik nicht gern gesehen seien.
Markaris: Vergessen Sie das! Das ist einfach nicht wahr. Wo immer Sie hinkommen, Sie werden freundlich empfangen werden. Die Leute achten sehr gut da-rauf, dass ihre Empörung über die Politik der EU nicht ihre Gastfreundschaft beeinträchtigt.
H&K: Und wie bereite ich mich derzeit auf eine Griechenlandreise vor?
Markaris: Man bereitet sich nicht vor, um Gottes willen. Man kann natürlich einen Reiseführer lesen, davon gibt es ja Hunderte. Aber ich denke, man sollte einfach die Augen offen halten und bereit sein, die Eindrücke in sich aufzunehmen. Und denken Sie bitte daran: Wenn Sie am Strand stehen und aufs Meer schauen, ist da nicht nur dieses wunderbar blaue Meer. Dann liegt hinter Ihnen ein Land mit einer Kulturgeschichte von über zweitausend Jahren.
Interview:Frank Keil
Foto: Daniel Cramer
Petros Markaris schreibt derzeit an einer Krimi-Reihe über die Krise in Griechenland. Geplant hatte er eigentlich eine Trilogie, aber was wird sein, wenn die Krise anhält? Bisher erschien im letzten Jahr „Faule Kredite“, 10, 99 Euro, und jüngst „Zahltag“, 22,99 Euro. Veröffentlicht hat er auch den Essayband „Finstere Zeiten – Zur Krise in Griechenland“, 14,90 Euro. Alle Werke von Petros Markaris sind im Schweizer Diogenes Verlag erschienen.