Sie sind gute Freundinnen und beste Nachbarinnen: die in St. Georg lebende Journalistin Peggy Parnass und die Künstlerin Tita do Rêgo Silva. Nun hat Tita für Peggy ein Buch gestaltet: Es erzählt von Peggys Kindheit, als die Nazis in Deutschland die Macht übernahmen.
(aus Hinz&Kunzt 236/Oktober 2012)
Ist das Buch jetzt fertig? Und wo bleibt Klaus? Peggy Parnass und Tita do Rêgo Silva sitzen in Titas Atelier, im Künstlerhaus Koppel 66, in St. Georg. Ein Becher mit Tee und eine Schale mit Kaffee warten auf einem Hocker. Viel Zeit haben sie in den letzten Monaten miteinander verbracht. Haben erste Ideen ausgetauscht, erste Skizzen und erste Entwürfe betrachtet – zu einem Buch mit Illustrationen über die Kindheit von Peggy Parnass.
Peggy Parnass: geboren in Hamburg-Eimsbüttel. Kind einer jüdischen Familie. Status: staatenlos. Der Vater Pole, die Mutter zur Hälfte Portugiesin. Die ersten Jahre sind glücklich, sind auch turbulent. Denn die Eltern führen eine wuchtige Ehe; ihr Vater ist ein Lebemann und Zocker, oft des Nachts unterwegs, während die Mutter flehentlich auf seine Rückkehr wartet. Drumherum nimmt das Unheil seinen Lauf. Ins Schwimmbad gehen: für Juden verboten. Ins Kino gehen: ebenfalls. Die Nachbarskinder singen das Lied vom Messer, von dem das Judenblut spritzt. Der Vater wird verhaftet, da kann er noch so viele Orden vorweisen, als Soldat für Deutschland im Ersten Weltkrieg. Die Mutter setzt Peggy und ihren jüngeren Bruder schließlich 1939 im Hauptbahnhof in den Zug nach Schweden. Sie werden sich nie wiedersehen.
Peggy Parnass verliert in den nächsten sechs Jahren über 100 Familienmitglieder: die Eltern, die nahen Verwandten, die nicht ganz so nahen und die weit entfernten. In Schweden sind die beiden zwar in Sicherheit, doch sie werden voneinander getrennt: Ihr Bruder kommt zunächst in ein Kinderheim, dann zu wechselnden Pflegeeltern. Peggy wird nacheinander in zwölf verschiedenen Pflegefamilien untergebracht. Zu Hause sein sieht anders aus. Das alles erzählt Peggy Parnass knapp und sehr schonungslos. Auf wenigen Seiten ein Drama. „Trotz aller Grausamkeit soll es auch ein fröhliches Buch werden“, sagt Tita. Sie ist anfangs ein wenig in Sorge, dass die Figuren, die sie in die Druckplatten schnitzt, Peggy nicht gefallen könnten: „Weißt du“, sagt Peggy: „Ich habe sie alle erkannt. Alle.“
Tita wohnt bei ihrem Atelier gleich um die Ecke. Wenige Schritte von ihr entfernt lebt auch Peggy Parnass. Sie kannten sich schon lange nur so vom Sehen. Liefen sich hier und dort bei Vernissagen, bei Stadtteilfesten über den Weg. Dann stolpert und stürzt Peggy eines Tages auf dem Weg nach Hause, bricht sich die Hände und die Arme. 2004 war das. Peggy kommt ins Krankenhaus St. Georg – und Tita besucht sie dort immer wieder, bringt ihr ihre farbigen Bilder mit und muntert sie auf. Aus einer anfangs losen Nachbarschaft wird eine solide Freundschaft. Und dann reift die Idee, doch ein Buch zu machen: Peggy Parnass erzählt von ihrer Kindheit, dazu gibt es Illustrationen von Tita do Rêgo Silva. Hilfreich zur Seite steht beiden der Buchkünstler und Verleger Klaus Raasch, mit dem Tita schon einige Bücher produziert und veröffentlich hat. „Für mich ist es eine Ehre, dieses Buch zu machen, und es ist auch wichtig, dass ein Buch über Peggys Geschichte erscheint“, sagt Tita. „Es wird schon ein Werk. Ein richtiges, großes Werk“, sagt Klaus. Und Peggy? Sie nimmt ein Blatt Papier, schreibt schnell ein paar Worte darauf, dann sagt sie wie zum Mitschreiben: „Ich liebe Tita. Ich liebe Titas Kunst. Und ich bin unendlich froh darüber, dass Tita meine Erinnerungen illustriert.“
Nach dem Krieg kommt Peggy Parnass über Umwege wieder nach Hamburg. Sie will nicht bleiben, aber sie bleibt. Bleibt in dem Land, das damals schnell weitermachen will, als sei nichts geschehen. Dass schnell alle Häuser wieder aufbaut und sich auf Schweinebraten freut, zu lustiger Schlagermusik. Peggy Parnass wird Schauspielerin, dreht mit Jürgen Roland. Noch lieber aber wird sie Gerichtsreporterin, auf der Suche nach der Wahrheit. Wie viele Prozesse hat sie besucht, in denen ehemalige Naziverbrecher vor Gericht stehen und doch ungeschoren davonkommen? Sie schreibt darüber mehrere Bücher. Wird geehrt mit vielen Preisen: Hamburger Ehrungen wie die Biermann-Ratjen-Medaille, bundesweite Auszeichnungen wie das Bundesverdienstkreuz. Das sie erst ablehnen will – zu viele ehemalige Nazis hätten es schließlich auch bekommen. Doch ihr Kollege Ralph Giordano überzeugt sie, es doch anzunehmen. Noch immer ist sie unterwegs, ist vor Ort, wenn irgendwo in der Stadt etwas Entscheidendes passiert. Gut vernetzt, mit vielen Kollegen, mit Schriftstellern, Schauspielern und Theatermachern. Ist zur Stelle, wenn die Zeitungen ihre Meinung wissen wollen. Wie neulich, als der Inhaber der Buchhandlung Wohlers in der Straße Lange Reihe ein Schreiben in seinem Briefkasten vorfand: Statt 1400 Euro soll er demnächst 4100 Euro Miete zahlen. Pro Monat versteht sich.
Anfangs will Tita das Buch auf der kleinen Presse drucken, die in ihrem Atelier steht: als ein bibliophiles Künstlerbuch in einer sehr überschaubaren Auflage – mit entsprechend angemessenem hohen Preis. Doch schnell entscheidet sie sich anders: Nun wird es in einer Auflage von 800 bis 1000 Exemplare erscheinen.
Eine solche Auflage zu drucken, das verlangt eine ordentliche Druckmaschine. Und so geht es den Sommer über immer wieder ins Museum der Arbeit nach Barmbek, wo die entsprechende Druckwerkstatt zur Verfügung steht und wo Klaus Raasch schon so manches Werk gedruckt hat. Etwas abseits sitzt Tita an einem Tisch, schneidet an der nächsten Druckvorlage. Hin und wieder knetet sie sich einzelne Finger. „Das Schneiden geht ganz schön auf die Hände“, erzählt sie. „Ich beeile mich schon“, sagt sie, als Klaus kurz vorbeiguckt. „Komm, lass dir Zeit“, sagt der, schlendert wieder von dannen, während im Hintergrund die Druckmaschine rattert.
So verging der Sommer. Mit diversen Druckgängen und Milchkaffeepausen. Nun aber soll das Buch erscheinen, passend zum Herbst. Klaus stürmt durch die Tür, leicht verspätet, hält dafür ein Paket in der Hand. Nicht das ganze Buch hat er mitgebracht, aber schon mal den Umschlag! In einem warmen, weichen Gelb gehalten. Tita fährt mit dem Zeigefinger sachte über das Leinen. Der Titel müsse noch eingeprägt werden. „Kindheit“ wird das Buch heißen. Nur: Kindheit. Klaus überschlägt die kommenden Tage: Gleich Anfang der Woche kann er das Buch vom Buchbinder holen; dann kann es hinaus in die Welt. Und Peggy? Peggy sieht Tita an und sagt: „Ach Tita, du bist eine wunderbare Künstlerin.“
Text: Frank Keil
Fotos: Klaus Raasch
Peggy Parnass: Kindheit – mit Originalholzschnitten von Tita do Rêgo Silva, Verlag Schwarze Kunst, Hamburg, 48 Euro
Buchvorstellung: Museum der Arbeit, So., 7.10., 13 Uhr, Museumseintritt: 6/4 Euro