Der Geißleinweg in Billstedt liegt zwischen den Welten
(aus Hinz&Kunzt 137/Juli 2004)
„Geißleinweg“ – wenn eine Straße so heißt, dann muss sie entweder besonders idyllisch oder besonders unwirtlich sein.
Denn welchen Grund gäbe es sonst für einen derart märchenhaften Namen? Doch auf den ersten Blick sieht hier alles ganz normal aus: Einfamilienhäuser, ältere und neuere, kleine und große, Gärten mit mal mehr, mal weniger gemähtem Rasen, vor den Türen Kleinwagen, aber auch mal ein Motorboot. Wohnlich, angenehm – aber idyllisch wird es erst durch den Kontrast mit der Umgebung. Wo man auch hinsieht: Hochhäuser, von denen viele mal einen Anstrich gebrauchen könnten. Im Norden die Autobahn 24, im Osten der viel befahrene Schiffbeker Weg.
„Woher der Straßenname kommt, weiß ich eigentlich nicht“, sagt Britta Reimann – und das will etwas heißen. Frau Reimann weiß nämlich von Berufs wegen alles, sie ist Friseurin im Salon Geißleinweg 4. Der heißt „Märchenfriseur“, denn im Viertel gibt es den Schneewittchenring, die Aschenputtelstraße, den Rotkäppchenweg und ein Dutzend weiterer märchenhafter Straßen. Aber eben keinen anderen Friseur – und deshalb kommt die ganze „Märchensiedlung“ zu Frau Reimann und ihren Kolleginnen zum Haare schneiden. „Vom Kleinkind bis zur Oma, wir frisieren alle“, sagt sie und lacht ein breites sonniges Lachen. Seit fünf Jahren arbeitet die 38-Jährige hier – und will möglichst „nie wieder weg“.
Während sie erzählt, bearbeitet sie weiter routiniert den Pony des fünfjährigen Moritz. Sie liebt die Gespräche mit ihren Kunden, und auch den Klatsch und den Tratsch – und außerdem wohnt ihre Oma um die Ecke. Sie selbst ist in Wandsbek zu Hause, und da bekomme sie schon mal schräge Blicke, wenn sie sage: „Ich arbeite in Billstedt.“ Nein, die Gegend habe keinen so guten Ruf, dabei sei das hier „ein ganz normaler gemischter Stadtteil, mit vielen älteren Leuten vielleicht, aber auch mit jungen Familien“. Der Verkehr von der Autobahn sei eines der größten Probleme, und ja, eine Zeitlang habe es auch hier in der Straße aufgebrochene Autos und Wohnungseinbrüche gegeben, „aber das hatte wohl mit den Zigeunern zu tun, die da hinten in der Unterkunft einquartiert waren. Seit die weg sind, ist jedenfalls wieder alles ruhig.“
Sie erzählt das mit diesem leicht verschämten, leicht erregten Ton, in dem man auch über gruselige Meldungen aus der Zeitung oder einen besonders schlimmen Fernsehkrimi spricht. Persönlich habe sie keine schlechten Erfahrungen gemacht, „viele von denen waren als Kunden hier und haben sich ganz normal verhalten.“ Jeder hat das Recht auf einen anständigen Haarschnitt – so ungefähr lautet wohl Frau Reimanns Version von sozialer Gerechtigkeit. Jedenfalls ist es ihr wichtig, „dass wir hier kein überkandidelter Laden sind, den sich nur Junge oder Reiche leisten können“. Hier gibt es jeden Tag ein Angebot, für Kinder oder Männer, zum Strähnchenfärben oder Locken legen, „und ich schneide auch denen von der Dringsheide die Haare, die den ganzen Tag nur Bier trinken – selbst wenn sie eine Fahne haben.“
Dringsheide liegt östlich der Märchensiedlung und ist offensichtlich eine andere Welt – genau wie der Spliedtring im Westen. Hier liegt, nur durch einen schmalen Wassergraben vom Geißleinweg getrennt, der Schulkinderclub, eine Einrichtung der Vereinigung Hamburger Kindertagesstätten. Auf dem Hof kicken zwei Jungen einen Ball, drinnen im einstöckigen Pavillon wird gerade Mittag gegessen. In einem anderen Raum sitzen Karima, Nazli und sechs andere Schüler konzentriert über ihren Hausaufgaben, nebenan spielen ein paar Jungs Tischtennis, und eine Tür weiter gucken Kinder angestrengt auf Computermonitore. Über den langen Flur, von dem all diese Türen abgehen, schallt es immer mal wieder „Rüdiger, kann ich…“ oder „Katrin, der will mir…“. Jugendliche mit schweren Schulrucksäcken kommen rein, strengen sich an, ein cooles Gesicht zu machen und den Kleinen zu sagen, dass sie ruhig sein sollen.
Vorne im Flur steckt eine Frau ihren dunkelhaarigen Kopf durch den Türrahmen. Anni Vollus ist die stellvertretende Leiterin des Schulkinderclubs und hat überhaupt keine Zeit. Von sieben Leuten im pädagogischen Bereich, die hier eigentlich arbeiten, sind nur drei da – „Urlaub und Krankheit“. Sie wedelt mit einem Faltblatt, „da steht alles drin, was wir machen.“
Aber dann erlaubt sie, zwischen einem klingelnden Telefon, einer Ermahnung wegen eines mitgebrachten Taschenmessers und Hilfe bei den Rechenaufgaben, dass ihr Kollege Rüdiger Schween uns ein bisschen herumführt. Der, mit leicht ergrautem Bart und lebenserfahrenem Bauch, kennt jedes der rund 60 Kinder, die sie hier täglich betreuen, persönlich. Seit 19 Jahren arbeitet er hier, beinahe die zweite Generation sieht er jetzt aufwachsen. Wenn er erzählt, freundlich, herzlich, kann er doch nicht verhehlen, dass ihm vieles, was er täglich mitbekommt, Sorgen macht. „Egal, was wir anbieten, länger als eine halbe Stunde kann sich eigentlich keiner mehr konzentrieren. Und die Eltern haben immer weniger Zeit für die Kinder. Manche können ja nichts dafür, weil beide arbeiten müssen, aber bei anderen…“ Der Satz bleibt unvollendet, wie manche andere, und vielleicht sind es gerade diese Auslassungen, die viel über ein Erzieherleben erzählen. Doch dann kommen wieder drei Jungs angerannt: „Rüdiger, Rüdiger, können wir den Schlüssel für den Computerraum…“ – „Wieso, ihr geht doch gleich zum Fußballtraining, seht zu, dass ihr da hinkommt.“ Bestimmt sagt er das, aber freundlich. Ein Ton, dem man anhört, dass ihm die Kinder auch nach fast 20 Jahren alles andere als egal sind.
Die Wohnunterkunft, über die wir beim Friseur Schauergeschichten gehört haben, grenzt gleich an das Grundstück des Schulkinderclubs. Ja, irgendwann habe es da mal Probleme gegeben, sagt Rüdiger Schween, aber das sei schon lange her. Vor einigen Jahren seien mal richtig viele Kinder aus der Unterkunft bei ihnen gewesen – „Kinder wie andere auch“ – zurzeit kämen eher wenige, „das ändert sich immer mal.“ Dann scheucht er die letzten Trödler zum Fußballtraining – offenbar hat er das auch früher schon mit Erfolg gemacht, denn auf einem Regal künden Pokale von kleinen und großen Triumphen der vergangenen Jahre. Drei Tage später wird sein Team beim Jugendcup den dritten Platz machen.
Jetzt hat seine Chefin eine Zigarettenlänge Zeit für uns. Auch sie arbeitet seit 14 Jahren hier: „Ich kenne einige Kinder, die sind von ihrem ersten bis zu ihrem letzten Schultag beinahe täglich bei uns gewesen. Für die ist das hier ihr zweites Zuhause!“ Der Bedarf für solche Angebote werde in Zukunft eher noch wachsen – aber aufgrund der Sparpolitik, so befürchtet sie, werde es für die Familien schwieriger, von der Behörde die nötigen Gutscheine zu bekommen. Ob auch Kinder aus dem Geißleinweg hierher kommen? „Nein“, schüttelt sie entschieden den Kopf, „da wohnen wohl eher ältere Leute.“ Und außerdem sei der kleine Kanal schon immer die Grenze gewesen zwischen der Horner Geest und der Märchensiedlung. „Da kommen eher noch Kinder von der Dringsheide zu uns, die laufen dann durch den Geißleinweg.“