In der Olendeelskoppel in Lemsahl fällt der Apfel nicht weit vom Stamm
(aus Hinz&Kunzt 136/Juni 2004)
„Abends haben wir Kinder alle in den Bäumen gesessen, denn damals war das hier alles eine Apfelplantage“, sagt Nicola Fürste und macht eine Geste, die weit über die Olendeelskoppel hinausragt, fast bis zur Lemsahler Landstraße im Westen und dem Lemsahler Bargweg im Osten. Dabei ist sie noch viel zu jung für so einen Großmuttersatz, Anfang, höchstens Mitte vierzig vielleicht, mit dichtem, dunklen Pagenkopf und großen lebhaften Augen. Genau der Typ, den französische Filmregisseure gerne besetzen.
Trotzdem, sie ist hier so etwas wie eine Ureinwohnerin: „Ich bin in diesem Haus aufgewachsen“, hatte sie gleich als erstes erzählt, nachdem sie den elektrischen Rasenmäher ausgestellt, die Ohrschützer abgenommen hatte und uns sofort durch die Hecke auf ihre Terrasse bat. Nach dem Abitur sei sie dann – „natürlich“ – in die Stadt gezogen, in eine WG, dann folgte eine Zeit in Franken – „schwer sich als Hamburger da einzugewöhnen. Und als ich dann selbst Kinder hatte, wollte ich zurück nach Lemsahl.“
Ihre Eltern hatten sich in der Zwischenzeit auf dem Nachbargrundstück ein größeres Haus gebaut und vermieteten der jungen Familie vor elf Jahren den Bungalow – ein einfacher Zweckbau aus dem Jahr 1966. Heute haben die Schuhe vor der Tür fast alle ungefähr Größe 46, die beiden Söhne sind mittlerweile 17 und 19 Jahre alt und haben vor fünf Jahren ihren eigenen Anbau auf dem Dach bekommen. Ein Kubus aus hellem Holz, der über dem eigentlichen Haus zu schweben scheint – er ist das erste, was einem von der Olendeelskoppel aus auffällt. „Für manche Nachbarn war das natürlich gewöhnungsbedürftig“, sagt Frau Fürste und grinst. Ansonsten sei die Nachbarschaft in dieser Straße etwas ganz Besonderes. „Wir laufen im Bademantel durch die Gärten und besuchen uns gegenseitig zum Frühstück, wir grillen gemeinsam und sind füreinander da, wenn es jemandem schlecht geht.“ Als ihr Mann vor zehn Jahren starb, haben ihr die Nachbarn geholfen – „und es ist einfach ein tolles Gefühl, dass ich hier Freunde habe, die ich schon aus meiner Schulzeit kenne.“ Auch ihre Mutter, inzwischen 72, lebt noch immer Hecke an Hecke mit ihr. Im Gegensatz zu vielen älteren Leuten, die aus der Straße wegziehen müssen, weil sie niemanden haben, der ihnen mit Haus und Garten hilft.
„Um echter Lemsahler zu werden, braucht man mindestens 20 Jahre, das kenne ich aus Volksdorf, wo ich aufgewachsen bin“ – diesen Satz sagt Jan Wiegand. Ihm und seiner Frau gehört das neueste und mit Abstand auffälligste Haus, ganz am südlichen Ende der Straße. Auch ein Bungalow, mit Stahlgerippe und Sonnenkollektoren auf dem Dach und einer schwarzen Fassade. Durch die große Fensterfront ohne Vorhänge kann man im Innern schon Möbel sehen, und auf den Sandhaufen, die einmal der Garten werden sollen, liegen Spielzeugschaufeln und Plas-tikbagger. Ein Sonnenstrahl schiebt sich durch die Wolken und lässt ihre Farben besonders grell wirken. Kein Tor und keine Hecke hindern am Betreten des Grundstücks – in Lemsahl ist das schon fast ein wenig unheimlich.
Familiendrama, Konkurs, Steuerflucht? Niemand zu Hause, den man fragen könnte, aber am Zaun ein kleines Schild: „Bauherren Zusana und Jan Wiegand“ und eine Telefonnummer. Beim Anruf lacht Jan Wiegand dann viel und versichert, dass es kein Drama gegeben habe, sondern nur den ganz normalen Bauwahnsinn. Deshalb sei die vorgesehene helle Eternit-Fassade eben noch nicht fertig und die Wiegands mussten am 31.3. mit ihren vierjährigen Zwillingen ins halbfertige Haus ziehen. Kontakt hätten sie bis jetzt vor allem zu den anderen „Neuen“ in der Straße gehabt, erzählt er am Telefon. Deren Haus, ungefähr auf halbem Weg zwischen Herrn Wiegand und Frau Fürste, war uns bei unserem Besuch auch gleich aufgefallen: sehr rosa, am Eingang beidseitig mit einer Säule verziert und laut dem am Zaun lehnenden Baustellenschild eine toskanische Villa von 300 Quadratmetern. Kinderspielzeug auch hier, aber ordentlicher. Vorne, rund um die geflieste Terrasse, ist alles frisch umgegraben, hinten auch, aber es stehen noch ein paar alte Obstbäume. Dazwischen machen drei junge Männer mit einer Schubkarre gerade Frühstückspause. Nein, nein, sie wohnen hier nicht, wehren sie ab, sie sind die Gärtner, die gerade den Rasen gesät haben. Die Besitzer sind leider nicht zu Hause.
Personal kann sich Frau Fürste nicht leisten. Sie macht auch alles selbst, was in Haus und Garten anfällt, „und das ist wirklich ganz schön viel.“ Dafür muss sie, die eine Ausbildung als Tänzerin hat, nicht regelmäßig arbeiten gehen. Kindern gibt sie Kurse in Rhythmus und Bewegung, manchmal unterrichtet sie auch Tanz, und neulich hat sie eine Regie-Hospitanz am Theater gemacht. „Nur so aus Neugier, eine gute Freundin von mir ist Schauspielerin.“ Nein, sie ist überhaupt nicht der Typ, der sich hier in der Stadtrand-Idylle vergraben würde, sondern sie weiß genau, was im Rest der Welt läuft und auch, was nicht so gut läuft. „Aber trotzdem finde ich es richtig, Kinder in so einer heilen Welt aufwachsen zu lassen, wenn es möglich ist. Das macht sie stark für den Rest, den man ja deshalb nicht vor ihnen verbergen muss.“ Ihren Söhnen jedenfalls habe es hier immer gut gefallen, „selbst in der Pubertät. Die hatten allerdings auch immer ihren Hockeyverein, den UHC gleich um die Ecke, und haben bis heute fast alle ihre Freunde hier.“ Deshalb kann sie es gut verstehen, dass junge Familien wie die Toskana-Villa-Besitzer oder die Wiegands hierher ziehen, „obwohl die Preise inzwischen absurd sind“.
300 Euro hat Jan Wiegand für den Quadratmeter bezahlt, und das findet auch er „happig“. „Aber als ich vor drei Jahren 40 wurde, entstand plötzlich das Bedürfnis nach der eigenen Scholle – hätte ich mir früher nie träumen lassen“, sagt er und lacht. Außerdem ist der Alsterwanderweg gleich um die Ecke, und eine Grundschule gibt’s hier auch – bloß zum Einkaufen braucht man immer ein Auto. „Das sind ja einfach so Phasen im Leben. Wer weiß, wenn die Kinder in 15 Jahren aus dem Haus gehen, dann ziehen wir vielleicht zurück in die Stadt!“, sagt der Neu-Lemsahler zum Abschluss des Telefonats. Die alt-eingesessene Nicola Fürste sieht das genauso. Doch noch fällt ihr nichts Negatives ein zu „ihrer“ Straße, außer dass öfter mal eingebrochen wird. „Aber das ist in solchen Wohngegenden nun mal so. Ich hoffe einfach, dass ich nicht zuhause bin, wenn’s mich mal trifft.“
Lieber freut sie sich auf das nächste Straßenfest, das sie hier regelmäßig organisieren. „Beim letzten Mal haben wir bis morgens um fünf getanzt – und da laden wir dann auch die Neuen in der Straße immer extra ein.“ Dann wird sie vielleicht auch Jan Wiegand und seine Familie kennen lernen – oder spätestens zum Apfelfest. „Im Herbst haben wir immer so viele Boskop, die verschenken wir an die Nachbarn, backen Kuchen, machen Saft und sitzen alle zusammen unter diesem Baum“, sagt Nicola Förste und deutet in die Richtung, wo ihr Garten an den ihrer Mutter grenzt. Wie zur Bestätigung schneit der knorrige alte Apfelbaum ein Meer von weißen Blüten auf die Wiese.