„haeftling.de“ verkauft Designer-Mode – und viele profitieren davon
(aus Hinz&Kunzt 135/Mai 2004)
Per Internet lässt sich heutzutage alles verkaufen. Warum nicht auch schicke Kleidungsstücke, die Strafgefangene im Knast gefertigt haben, fragte sich der Berliner Werber Stephan Bohle und stellte gemeinsam mit der Justizvollzugsanstalt Tegel ein einzigartiges Projekt auf die Beine.
„Wer das kauft, ist wahrscheinlich noch nie im Knast gewesen“, sagt Ralf Tucher (Name geändert, Red.). Der Strafgefangene der Justizvollzugsanstalt (JVA) Berlin-Tegel hat das Geheimnis der Marke „haeftling.de“ durchschaut – und sich eine klare Meinung gebildet zu den Hemden, Hosen und Jacken, die er mit der Maschine zusammennäht: „Beschissen!“ Der 32-Jährige, der offenbar einen Hang zum Nörgeln hat, bevorzugt Nike-Produkte, „die gefallen mir.“ Die Häftlingskleidung trage er ja nicht mal „drinnen“, im Knast. „Warum soll ich die Scheiße dann draußen kaufen?“ Halb ernst, halb ironisch schimpft der junge Berliner noch eine Weile über die „Sklaventreiberei“ in der Gefängnis-Schneiderei, um dann zuzugeben: „Aber besser als den ganzen Tag auf Zelle hocken.“
Neue Jobs für Strafgefangene zu schaffen, indem die von ihnen gefertigten Produkte übers Internet an die braven unbescholtenen Bürger draußen verkauft werden: Das ist die Idee von „haeftling.de“. Für sie sprechen nackte Zahlen: 1650 Menschen sitzen in der JVA Tegel ein, doch nur 500 Arbeitsplätze bieten die 15 Gefängnisbetriebe. 570 Häftlinge finden noch Beschäftigung als Hausarbeiter, bleiben 580, die zum Nichtstun verdammt sind – was nicht nur schlimm ist für sie, sondern auch ihre Resozialisierungschancen deutlich mindert, wie ein JVA-Bediensteter erklärt: „Denen, die draußen nur geklaut haben, durch Arbeit einen geregelten Tagesablauf beizubringen: Das ist Prävention.“
Hinter einer schweren Metalltür eröffnet sich der Blick in die Gefängnisschneiderei, einen Raum mit vielen Arbeitstischen und noch mehr Stoffbergen in den Regalen. 24 Relikte aus einer anderen Zeit warten auf ihren Einsatz, „manche der Nähmaschinen sind 35 Jahre alt“, sagt die Betriebsleiterin. An diesem Vormittag verlieren sich ein gutes Dutzend Männer in dem großzügigen Raum mit den hohen Fenstern. Schwierig sei es, die Arbeitsplätze zu besetzen, so die gelernte Maßschneiderin: „Manche brauchen ein halbes Jahr, bis sie eingearbeitet sind – Männer sind es ja gewohnt, robust zu greifen. Und wenn wir Pech haben, werden sie dann abgeschoben.“ Nicht nur Produkte für „haeftling.de“ werden in der Schneiderei gefertigt, sondern auch die anstaltseigene Wäsche für den gesamten Berliner Strafvollzug. Doch seitdem die Knast-Kleidung ihre Abnehmer auch außerhalb der Gefängnismauern findet, gibt es mehr als genug zu tun: „Wir könnten theoretisch auch 35 Gefangene hier beschäftigen. Doch wie sollen wir die zu zweit anständig betreuen?“
Geistiger Schöpfer des Projekts „haeftling.de“ ist Stephan Bohle. Der Inhaber einer Berliner Werbeagentur stöberte eines Tages im Verkaufsladen der JVA herum und entdeckte Parkas, Arbeitsschuhe und Taschen, die bis dahin fast ausschließlich innerhalb der Gefängnismauern getragen wurden. „Produkte mit Charme, schlicht, gebrauchsfähig und ohne viel Schnörkel“, erkannte der 38-jährige Geschäftsmann und fragte sich: Warum sollten die nicht mehr Liebhaber finden? Schnell fand Bohle den Mitstreiter, den er brauchte: Ulrich Fehlau, ein 50-jähriger kräftiger Mann mit Mut zur Veränderung, Geschäftsführer des Bereichs Arbeitswesen in der JVA. Das Land Berlin hat Fehlau aus der Wirtschaft geholt, damit er die Arbeit im Knast profitabler macht. 550.000 Euro „kassenwirksame Einnahmen“ soll er jährlich erzielen, so die Vorgabe. Alles, was darüber hinaus verdient wird, verbleibt der JVA für die Schaffung neuer Arbeitsplätze oder den Bau von Sportanlagen. Auch Dank „haeftling.de“, sagt der Gefängnis-Manager zufrieden, „springen wir inzwischen mit Leichtigkeit über diese Marke“.
Eine Indiskretion hatte vergangenen Sommer, mitten in der Urlaubszeit, dazu geführt, dass die Presse vom Pilotprojekt erfuhr, als es noch in der Konzeptionsphase steckte. Die Macher sahen sich gezwungen, die Homepage vorzeitig freizuschalten. Es folgte eine Lawine von Bestellungen: fast 4000 innerhalb der ersten drei Wochen, sogar aus Australien und New York. „Wir sind einfach nicht mehr hinterhergekommen“, berichtet Ideengeber Bohle. Fast vier Monate lang konnte das Projekt keine neuen Bestellungen annehmen.
Inzwischen hat „haeftling.de“ die Produktpalette erweitert: Geschirrtücher (23,50 Euro) gibt’s neuerdings, Bettwäsche (41,50 Euro) und sogar einen erlesenen Weißwein (59 Euro) aus Baden-Würtemberg. EU-weit können Interessierte per Mausklick bestellen, per Kreditkarte bezahlen und erhalten nach vier Wochen die gewünschte Ware. Der pfiffige Werber Bohle hat sich die Marke „Häftling“ europaweit schützen lassen und für den Vertrieb eine KG mit sechs Mitarbeitern gegründet. Rund einem Dutzend Haftanstalten in Deutschland hilft er mittlerweile, die von Strafgefangenen gefertigten Produkte zu verkaufen und sagt selbstbewusst: „500.000 bis 600.000 Euro wollen wir dieses Jahr umsetzen.“
Im Sommer will der Werber für seine „selbstbewusste, souveräne Marke“ im Herzen Berlins einen Laden („flagship store“) eröffnen, um den Absatz weiter anzukurbeln. Seine Zielgruppe hat er dabei fest im Blick: „modebewusste Städter, die sich ein bisschen trendy anziehen wollen.“ Stores in Hamburg und Los Angeles könnten eines Tages folgen. Dass er sich mit Gefangenenarbeit eine goldene Nase verdiene, weist Bohle weit von sich: „Auf die Löhne im Gefängnis habe ich keinen Einfluss, die sind gesetzlich geregelt. Für die Häftlinge tun wir etwas Sinnvolles. Und außerdem: Große Markenfirmen lassen junge Asiatinnen für zwei Euro und weniger für sich arbeiten.“
Rund zehn Euro für sieben Stunden Nähen verdient Häftling Ralf Tucher hinter Gittern, „zu wenig“, findet er, „draußen bekomm ich 25 Euro die Stunde.“ Draußen sei eben nicht drinnen, kontert Gefängnis-Manager Fehlau. Die Kosten von Knastarbeit seien extrem hoch, nicht nur, weil viele Insassen für die oft ungewohnten Tätigkeiten angelernt werden müssen: „Aus 1650 Gefangenen und 800 Bediensteten können Sie kein rentables Unternehmen machen, wenn Sie alle Kosten einrechnen.“ Bis zu 250 Euro sind das täglich für jeden Häftling, berücksichtigt man die Ausgaben für Verpflegung, ärztliche Versorgung und Bewachung.
Immerhin, 15 neue Arbeitsplätze seien dank „haeftling.de“ allein in der JVA Tegel entstanden. „Ob wir die auf Dauer halten können, ist eine Frage des Absatzes“, sagt Fehlau. Von der Umtriebigkeit seines Geschäftspartners Bohle ist der Knast-Manager nur noch mäßig begeistert: „Wenn zwei Ochsen am Trog stehen, wollen beide fressen“, sagt er in Anspielung auf die Produktpreise, die Bohle mit dem Label „haeftling.de“ nach oben treibe. Tatsächlich kostet die gleiche Arbeitsjacke im Shop der JVA ohne aufgedruckten Markennamen 32 Euro, bei „haeftling.de“ dagegen müssen die Kunden 49,50 Euro berappen. „Das ist nicht nachvollziehbar“, meint Fehlau. Sein Vertrag läuft in diesen Tagen aus, der Staats-Angestellte auf Zeit wechselt zurück in die Wirtschaft und ist ernüchtert angesichts der Hindernisse, die ihm Ungetüme wie Beamtenrecht und Haushaltsordnung bereitet haben. So dürfe eine Vollzugsanstalt keinen Bankeinzug betreiben beim Verkauf ihrer Waren. Das ärgert den Knast-Manager, ist das Internet-Geschäft unter solchen Umständen doch kaum lukrativ: „Wir könnten mit unserer eigenen Vermarktung viel weiter sein.“
Matthias Breitenbach (Name geändert, Red.) nimmt zwei Stoffstücke vom Stapel, legt sie Kante auf Kante und zieht sie durch die Nähmaschine. „Ziemlich unangenehm“ sei es, den ganzen Tag in der Zelle zu hocken, erinnert sich der 39-Jährige an seine ersten Monate in der JVA, als es noch keine Arbeit für ihn gab. Eine Stunde Ausgang am Mittag, anderthalb am Nachmittag – der Rest war Lesen oder Löcher in die Luft starren. „Wer hier keinen Job hat, kann einem schon Leid tun“, sagt der Drogenkranke, der im Gefängnis das Leben ohne Heroin wieder gelernt hat. Schließlich mache es auch „Spaß, mit den Kollegen während der Arbeit zu sprechen“. Mit seinem bescheidenen Lohn kauft sich der Häftling Nudeln und Sauce, Obst und Gemüse im Gefängnis-Laden – und ist darüber heilfroh. „Das Essen hier ist so grausam, dass ich es dreimal die Woche ins Klo schütten muss“, sagt der gelernte Koch. Für „haeftling.de“ kann er nur werben: „Die Idee find’ ich witzig. Und die Klamotten sehen einfach gut aus.“