Die Schule Heinrich-Helbig-Straße in Bramfeld
(aus Hinz&Kunzt 135/Mai 2004)
Der Weg war nicht besonders viel versprechend: Bahnhof Barmbek, mit dem Fahrrad die vierspurige Bramfelder Chaussee entlang, hinter der Techniker-Krankenkasse links. Plötzlich wird es anders. Menschlicher, wohnlicher.
Die Mietshäuser, in den fürsorglichen Siebzigern gebaut, haben vier bis sechs Stockwerke und gelb gestrichene Balkone. Die Grünanlagen dazwischen sind mittlerweile in einem Alter, in dem sie natürlich wirken. Jungs, zehn, elf Jahre alt vielleicht, mit zu großen Rucksäcken und tiefer gelegten Hosen, trödeln über den Bürgersteig. Das eiserne Schultor steht offen, die Gebäude sind luftig rund um den Hof verteilt und durch Laubengänge verbunden. Auf den Asphalt haben Kinder „50 Jahre Schule Heinrich-Helbig-Straße“ geschrieben.
Das war im vorigen Jahr, da gab es eine ganze Woche Lesungen, Theateraufführungen und Partys, erklärt Madlen. Sie ist 14, und deshalb sitzt sie jetzt, nach dem Unterricht, mit anderen aus ihrer Klasse auf dem Waschbetonmäuerchen in der Sonne. Sie haben wichtige Sachen zu besprechen, die man nur ins Ohr flüstern kann. Trotzdem beantwortet Madlen geduldig und freundlich alle Fragen: „Wir sind alle aus einer Klasse, der R8, außer Julia, die war bis zum vorigen Jahr bei uns, jetzt ist sie in der H8.“ R steht für Realschule, H für Hauptschule – außerdem gibt es in der Heinrich-Helbig-Straße noch Grund- und Vorschüler, aber die werden von der R8 natürlich ignoriert. Insgesamt 435 Schüler, zur Zeit.
Madlen, die bis vor einem Jahr in Kaltenkirchen gewohnt hat, findet die Schule hier „gut, weil sie nicht so groß ist“. Florian, Kapuzenjacke, Hip-Hopper-Strickmütze tief in die Stirn gezogen, nickt kaum sichtbar Zustimmung. Praxisnah sei es, und es gäbe viele Kontakte zu Unternehmen, wo man Praktikum machen könne. Madlen streicht eine rotbraune Haarsträhne hinters Ohr und blinzelt in die Sonne. „Und so Gewalt auf dem Schulhof, das gibt’s hier auch nicht.“ Unter seiner Baseballkappe sagt Klaus: „Natürlich prügeln sich mal welche“, aber das sei normal. Klaus ist seit der ersten Klasse hier, er muss es wissen.
Tatsächlich kann man sich jetzt in der Mittagsstille selbst eine harmlose Schulhof-Prügelei nur schwer vorstellen. Die Forsythien blühen, der rote Backstein leuchtet, zwischen den Fenstern lockern gelbe Paneele die Fassade auf, Türen und Metallpfeiler sind in einem freundlichen Dunkelblau lackiert. Als man so baute, damals in den fünfziger Jahren, sagte noch niemand „abzocken“, dafür gab es „Klassenkeile“.
„Einzeln sind sie alle ganz lieb, nur in der Gruppe müssen sie manchmal stark tun und ein bisschen angeben“. Die Frau mit den kurzen, mahagonifarbenen Locken und der Goldrand-Brille steht vor einer Foto-Collage der H7. Sie kennt jeden, weiß, wer es schwerer hat, weil seine Hautfarbe dunkler ist, und dass die vier Mädchen der Klasse oft frecher sind als die 15 Jungs. Dabei arbeitet Frau Pasternak hier gar nicht als Lehrerin, sondern als Putzfrau – schon seit zehn Jahren. „Ich muss das nicht tun, aber ich habe die Kinder gern und die Lehrer, deshalb mag ich die Arbeit.“ Manchmal helfen ihr gerade die, die sich im Unterricht besonders schlimm aufführen, den Müll hinaus zu tragen.
Gerade putzt Frau Pasternak in einem der flachen, gelb verklinkerten Pavillons hinter dem Hauptgebäude. Es gab noch mehr davon, aber die wurden 1993 abgerissen, weil sie asbestverseucht waren. Seitdem haben sie hier zu wenig Platz und nutzen Räume in der benachbarten Schule am Langenfort, zwei Straßen weiter. Und deshalb muss Frau Pasternak jetzt Frau Wehrs retten, die hat sich nämlich ausgesperrt und den falschen Schlüsselbund in der Tasche. Frau Wehrs ist die Klassenlehrerin von Madlen und der R8 und außerdem stellvertretende Rektorin. Zwei Gebäude, das sei schon manchmal lästig, meint sie. „Wir wollten eigentlich neu bauen, aber weil die Stadt kein Geld hat, sieht es nicht gerade danach aus.“ Frau Pasternak befürchtet sogar, dass alles schlimmer wird, denn die Putzstellen seien neu ausgeschrieben worden. „Wenn eine Firma es billiger macht, sind wir raus. Dann kommt wahrscheinlich jede Woche jemand anders und kennt keinen, und so macht man auch keine gute Arbeit!“
Kurz nach unserem Besuch hat die Schulsenatorin verkündet, dass die höheren Klassen an der Heinrich-Helbig-Straße abgeschafft werden. Doch über Politik darf Brigitte Wehrs ohne Behörden-Genehmigung nicht sprechen. Über ihre Schule dagegen redet sie gern, obwohl es schon beinahe drei Uhr ist und sich auf ihrem Schreibtisch jede Menge Arbeit stapelt. Die 43-Jährige mit dem jugendlichen Lachen ist seit sieben Jahren hier und noch immer beginnt sie zu leuchten, wenn sie von ihrer Arbeit spricht. Ein tolles Kollegium sei das, viele, die sich weit mehr engagieren, als sie müssten. „Ein Kollege hat zum Beispiel dafür gesorgt, dass wir zwei Computerräume haben, hat Sponsoren besorgt, ausrangierte Rechner beschafft und alles auch noch selbst verkabelt.“
Sie hält sich nicht damit auf, über Sparmaßnahmen und Sachzwänge zu jammern, aber wenn sie ständig in der Bild-Zeitung lesen muss, dass alle Lehrer faul seien, dann regt sie sich auf. Sie wird – Madlen, Nils, Klaus und die anderen werden es bestätigen – dann ein wenig rot im Gesicht, aber im Unterricht kommt das selten vor. Ihre Schüler mögen sie, sie mag ihre Schüler, „auch wenn sie einen manchmal wahnsinnig machen“, und sie bringt ihnen bei, dass sie den Respekt, den sie für sich selbst erwarten, auch anderen gegenüber erweisen müssen. „Natürlich sind wir hier keine Insel der Seligen“, lacht sie, „aber ich bin überzeugt, dass wir viele Probleme einfach schneller in den Griff kriegen, weil wir nicht so groß und anonym sind.“
Schulschwänzer sind so ein Problem. Gerade heute hat ein Sozialarbeiter die Sachen von einem Mädchen aus der R8 abgeholt, die seit einem halben Jahr nicht mehr im Unterricht erschienen ist. „Die ist eigentlich ganz nett“, meint Florian, „aber ihre Freunde hatten einen schlechten Einfluss, und sie hat ja auch nicht bei ihren Eltern gewohnt.“ Ob denn niemand hätte mit ihr reden können? Florian zuckt mit den Schultern. „Schon, aber das hat nichts genützt.“
„Das hängt einem lange nach, wenn man auf diese Weise ein Kind verliert“, sagt Brigitte Wehrs. Manchmal allerdings treffe man solche Schüler Jahre später wieder und höre, dass sie ihren Abschluss doch noch gemacht haben, „das baut dann wieder ein bisschen auf“. Richtig stolz sei sie, „dass wir besonders unsere Hauptschüler erfolgreich bei der Lehrstellensuche unterstützen.“
Jetzt, da sie den richtigen Schlüsselbund hat, führt sie zum Abschluss noch einmal übers Gelände. Kreisrunde Oberlichter, Kachelreliefs des Künstlers Maximiliam H. Mählmann und eine Panther-Skulptur von Robert Müller-Warnke auf dem Hof erzählen davon, wie man sich vor 50 Jahren eine moderne Schule vorgestellt hat. Was das heute bedeutet, davon erzählen Kollagen aus Zeitschriften, Fotos von Klassenreisen, eine handgeschriebene Klassen-Ordnung – „ich lasse andere ausreden“ –, Praktikums-Berichte, der Computerraum und penibel aufgeräumte Werkzeugschränke. Brigitte Wehrs winkt Madlen zu, die über den Hof zum Bus rennt. Frau Pasternak bindet ihren Kittel ab, guckt noch einmal kritisch auf den frisch gewischten Linoleum-Fußboden. Vorsichtig, auf Zehenspitzen, geht die stellvertretende Rektorin darüber, verabschiedet sich mit Lachen und Handschlag „bis morgen!“. Gemeinsam werden sie hier an der Heinrich-Helbig-Straße ihre Schule schon in Ordnung halten – wenn man sie denn lässt.