Partnervermittlung für geistig Behinderte
(aus Hinz&Kunzt 134/April 2004)
Vor fünf Jahren gründete der Psychologe Bernd Zemella in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf eine Partnervermittlung für geistig Behinderte. 60 Paare haben sich seitdem gefunden. Im Herbst 2001 gaben sich Volker und Moni Lauer das Jawort – das erste Paar, das auch vor den Standesbeamten trat. Peter Brandhorst besuchte die beiden.
Manchmal, wenn ihm wieder eine Erinnerung verloren gegangen ist und auf Worte plötzlich nur Momente tiefer Stille folgen, greift Volker zu Pfeifenstopfer und Feuerzeug. Das hat er eben erst getan, und es scheint, als suche er jetzt mit dem Tabak zugleich auch sein Gedächtnis neu zu befeuern. Neben ihm sitzt Moni, seine Frau, und Volker erzählt von ihrem ersten Treffen vor dreieinhalb Jahren. „Am Altonaer Bahnhof“, sagt Volker, „das weiß ich noch genau. An viel mehr kann ich mich nicht so gut erinnern.“
Moni hilft nun, ein paar Augenblicke von damals in den Kopf zurückzurufen. „Du hast mich anschließend mitgenommen in deine Wohngruppe. Und mich dort geküsst mit vielen netten Worten dabei – das kannte ich vorher gar nicht.“ Und Volker strahlt jetzt über die Pfeife hinweg und sagt: „Aber dass meine Betreuer drei Mark Essengeld von dir wollten, das fand ich nicht so gut. Wenn man einlädt, dann nimmt man kein Geld.“
Für Volker und Monika Lauer, heute 47 und 44 Jahre alt, begann an diesem Tag ein neues Leben, ein Leben als Paar. „Erst haben wir uns Freundschaftsringe gekauft“, erzählt Moni, „einen Tag später Verlobungsringe. Dann ging das mit Heiraten los.“ Wenn Monika spricht, redet sie in kurzen Sätzen, nie ein Wort zu viel. Seit ihrer Geburt ist sie geistig behindert. Auch Volker lebt seit einem schweren Autounfall vor fast 20 Jahren mit Gedächtnisstörungen. Manchmal weiß er schon nach Minuten nicht mehr, was gerade eben passierte.
In der kleinen Zweizimmerwohnung in einer Hochhaussiedlung an der östlichen Kante Hamburgs weist nichts darauf hin, dass hier zwei Menschen mit Handicaps leben. „Haushalt hab ich gut drauf“, sagt Moni. Auf dem Tisch liegt die Fernsehzeitschrift, und an einer Wand stehen ein paar mit CDs gefüllte Regale. Einmal die Woche schaut ein Betreuer herein, und wenn Volker um fünf zurückkehrt von seiner Arbeit in einer Behindertenwerkstatt, „dann umarme ich ihn und wir unterhalten uns.“ Manchmal, wie am Vortag, wenn Moni zuvor noch einkaufen geht, notiert sie auf einer kleinen Tafel neben der Wohnungstür: „Ich bin bei Aldi. Bin ungefähr 18 Uhr wieder bei dir, mein Wuschelchen.“
Für Monika Lauer ist es die erste Partnerschaft in ihrem Leben. Volker war bereits einmal verheiratet, „aber ich weiß nicht mehr, wie alt meine damalige Frau jetzt wohl ist.“ Die Beziehung brach bereits vor dem Unfall auseinander. Später, all die Jahre, die er in einer Wohngruppe lebte, erzählt Volker, da hat er sich immer nach Zweisamkeit gesehnt. „Mit Moni war das wie die Erfüllung eines schönen Traums. Deshalb ist sie meine Traumfrau.“ Und Moni sagt, auch sie habe sich lange nach Zuneigung und Zärtlichkeit gesehnt. Ein paar Mal hat sie, aus ihrer Wohngruppe heraus, Annoncen aufgegeben. „Keine Antworten, viele Enttäuschungen“, fasst sie zusammen, „allein habe ich das nicht hinbekommen.“
Geholfen hat beiden die kostenlose Schatzkiste der Stiftung Alsterdorf. „Warum sollten Behinderte andere Wünsche und Sehnsüchte haben als Nichtbehinderte?“, fragt deren Erfinder Bernd Zemella. „Das Problem ist nur: Viele kriegen das ohne Hilfe nicht gewuppt.“ Deshalb hat er eine computergestützte Kartei angelegt, in der mittlerweile 328 Suchende registriert sind – im Verhältnis 3:1 zumeist Männer. Dort vermerkt Zemella Basisdaten wie Alter und Geschlecht oder Art des Handicaps sowie Vorstellungen über den gesuchten Partner. Zwar steigt mit dem Grad der Behinderung auch die Schwierigkeit der Vermittlung. Doch wenn der Psychologe glaubt, zwei könnten zueinander passen, dann schickt er ihnen eine Art Steckbrief mit Foto und arrangiert ein erstes Treffen, auf Wunsch auch bei ihm im Büro. „Was danach passiert“, sagt Zemella, „ist wie überall im Leben.“ Etwa 60 Paare haben sich bisher gefunden, manchmal, auch das wie überall, später wieder getrennt.
Auch wenn Partnerschaft von Behinderten heutzutage kein Thema mehr ist, über das sich in der großen Öffentlichkeit jemand ernsthaft traute zu ereifern, so hat Zemella im Kleinen, beispielsweise bei Eltern behinderter Frauen, durchaus mit Widerständen zu kämpfen. „Das ist die Angst vor ebenfalls behinderten Kindern“, sagt der Psychologe. Er nennt das eine „unberechtigte Angst“, wenngleich die seltenen Fälle, wo Behinderte gehandicapte Kinder zur Welt brachten, problematisch sein könnten. Solche Situationen seien jedoch lösbar mit Hilfe von Pflegefamilien. Grundsätzlich, so Zemella, besitzen Behinderte ein Recht sowohl auf Partnerschaft wie auch auf Elternschaft.
Bei seinen Aufklärungsseminaren merkt Zemella, „dass Sex im Leben von Behinderten nicht die Rolle spielt wie bei Nichtbehinderten“. Niemand hat bisher im Fragebogen geantwortet, er oder sie wünsche eine Beziehung „ausschließlich wegen Sex“. Gesucht werde eher nach einer Form von Partnerschaft, die eine größere Selbstständigkeit im Leben ermöglicht und dabei vielleicht auch raushilft aus der Wohngruppe, raus aus dem Heim. „Der Wunsch nach Streicheleinheiten“, so Zemella, „die Sehnsucht, Dinge mit jemandem zu teilen – wo all dies ge- und erlebt wird, da entsteht Zufriedenheit. Die krempelt das Leben zwar nicht total um. Sie füllt aber Lücken.“
„Bis heute ist alles in Erfüllung gegangen“, sagt Moni. Manchmal fährt sie abends allein in die Innenstadt, Volker muss wegen der Arbeit immer früh zu Bett. Dann besucht sie Konzerte bekannter Volksmusikanten, von Stefanie Härtel etwa oder vom Trompeter Stefan Mross. „Sie hat gut drauf, wer das ist“, sagt Volker, „und erklärt mir den Unterschied zur Schlagermusik.“
Dann muss Volker erneut zum Pfeifenstopfer greifen, und Moni sagt in die Stille hinein: „Ich tu ihn immer erinnern, auch sonst mit Arzt oder Haspa oder so.“ Volker gibt sich Feuer, und schließlich schaut er Moni an, und es fällt ihm plötzlich ein englisches Wort ein, das er früher als Seemann wohl oft benutzt hat, „forever“.