Neun Stifte, die niemand vermisst. Ein Hinz&Kunzt-Verkäufer soll sie gestohlen haben. Jetzt drohen ihm zehn Monate Gefängnis.
(aus Hinz&Kunzt 134/April 2004)
Die neun Stifte, die vor der Richterin auf dem Tisch liegen, werden in allen deutschen Karstadt-Filialen verkauft. Sie kosten zusammen 62,05 Euro. Doch Hinz & Kunzt-Verkäufer Frank Huml soll sie nicht bezahlt, sondern gestohlen haben. So haben es Polizei und Staatsanwaltschaft ermittelt – von Amts wegen, ohne dass der Kaufhaus-Konzern den Verlust angezeigt hätte.
Hat er ihn überhaupt bemerkt? Karstadt setzt im Jahr mehr als sechs Milliarden Euro um. Im vorvergangenen Jahr ergab die Inventur, dass bundesweit Waren für etwa 92 Millionen Euro fehlten. Das sind knapp 1,5 Prozent vom Umsatz. Das meiste davon dürften Ladendiebe weggeschafft haben, aber nur die wenigsten wurden erwischt. Gut möglich also, dass unbemerkt auch neun Stifte aus der Filiale in der Hamburger Mönckebergstraße abhanden kamen.
Doch was dem Kaufhaus tatsächlich fehlt, spielt für die Strafverfolgung hier gar keine Rolle. Nur ob Huml ein Dieb ist. Das Amtsgericht urteilte: ja. Weil Huml in die Berufung ging, rollte das Landgericht die Sache vor kurzem neu auf.
Grußlos eröffnet die Richterin die Verhandlung. Sie berichtet, was sie am Vortag in der Akte entdeckte: Unter den diversen Vorstrafen von Huml sind auch zwei wegen Diebstahls von Schreibgeräten. Jetzt also der dritte Fall. „Sollte man da nicht ein Geständnis machen?“, sagt die Richterin. Doch Huml zerstört ihre Hoffnung auf einen schnellen Prozess. Ja, früher habe er geklaut, um seine Drogensucht zu finanzieren. Aber inzwischen sei er im Substitutionsprogramm, es gehe aufwärts. „Ich bin mir keiner Schuld bewusst“, sagt der 41-Jährige.
Eine Polizeistreife war an einem Märztag des vergangenen Jahres auf Huml aufmerksam geworden: Am Taxistand am Hauptbahnhof sprach er mit einem Fahrer. „Weil da öfter mal mit Diebesgut gehandelt wird, entschlossen wir uns, nachzusehen“, sagt einer der Polizeibeamten, den das Gericht als Zeugen geladen hat. Er habe noch gehört, wie der Taxifahrer Huml warnte: „Achtung, Polizei!“
Im Rucksack des Hinz&Kunzt-Verkäufers finden die Polizisten etliche Stifte, darunter auch neuwertige mit Strichcode-Etikett. Huml entgegnet, er sammle Kugelschreiber und diese habe er bei Hinz&Kunzt mitgenommen – eine Sachspende, die dort für Verkäufer ausgelegen habe. Im Übrigen habe er den Taxifahrer nur nach dem Weg gefragt.
Die Polizisten legen sich nun mächtig ins Zeug, um ihren Verdacht zu erhärten. Sie ermitteln, dass Karstadt an der Mö die Stifte verkauft. Sie lassen sich bestätigen, dass von dort keine Sachspende an Hinz&Kunzt gegangen ist. Und sie fragen bei Hinz&Kunzt nach, ob dort auch mal neuwertige Dinge für die Obdachlosen abgegeben werden.
Das passiert durchaus, erläutert Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer in der Gerichtsverhandlung. Mehrere hundert Oberhemden zum Beispiel, fabrikneu und verpackt. Normalerweise nehmen Mitarbeiter diese Spenden entgegen und verteilen sie gezielt an Bedürftige. Aber manchmal stellen Bürger einen Karton mit Spenden einfach im Verkaufsraum ab, ohne dass Mitarbeiter ihn sofort kontrollieren können. Da liegt dann eine Lederjacke mit Preisschild neben sechs Bestecken und einem Schlafsack – vielleicht aus einer Haushaltsauflösung. Nicht auszuschließen, so Karrenbauer, dass sich auch mal neuwertige Kugelschreiber darin befinden. Und ebenfalls nicht auszuschließen, dass sich Verkäufer aus so einem Karton bedienen – obwohl das gegen die Regeln der Spendenannahme bei Hinz&Kunzt verstößt.
Den Staatsanwalt überzeugen diese „denktheoretischen Möglichkeiten“ nicht: Er sieht in Huml einen Dieb oder zumindest einen Hehler. Humls Rechtsanwältin dagegen plädiert auf Freispruch: „Es hätte so gut gepasst: Da hat einer, der geklaut hat, wieder geklaut.“ Doch nachweisen lasse sich das eben nicht. Huml sei gerade dabei, die „unselige Vergangenheit“ abzustreifen; seine Darstellung sei nicht weniger glaubwürdig als die der Polizei.
Die Richterin und die beiden Schöffen verwerfen die Berufung. Damit gilt das Urteil aus der ersten Instanz weiter: vier Monate Gefängnis. Und weil das alles während der Bewährungszeit für ein anderes Delikt passierte, wird jene Strafe nun auch fällig. Macht insgesamt zehn Monate Freiheitsentzug.
Huml ist erbost: „Ich gehe nicht in den Knast.“ Er hat vorsorglich Revision eingelegt und angebliche Entlastungszeugen aufgetrieben. Die neun Stifte gehen vorerst zurück in die Asservatenkammer des Gerichts. Sie können auf baldige Entlassung hoffen – und werden dann wohl an Karstadt zurückgegeben.