Hinz&Künztler zeigen das andere Gesicht der Innenstadt
(aus Hinz&Kunzt 134/April 2004)
Geschäftsleute und Politiker sind sich einig: Hamburgs „gute Stube“ ist die City mit ihren glitzernden Boutiquen und klotzigen Konsumtempeln. Beim Stadtrundgang „Nebenschauplätze“ zeigen Hinz & Künztler wie es ist, in der guten Stube auch schlafen zu müssen.
Stefan Witt will Hamburg besser kennen lernen: „Mich reizt es, die Stadt aus einer anderen Perspektive zu betrachten“, sagt der 29-jährige Logopäde. Die Rentnerin Irmgard Schulz will mehr über Obdachlosigkeit erfahren: „Viel weiß ich ja schon aus Hinz & Kunzt, aber ich will es mit eigenen Augen sehen.“ Und Sophie Paasch, 13 Jahre, will wissen, wie „ihr“ Verkäufer lebt, „während ich daheim im Warmen bin.“ Sie und zehn andere Hinz & Kunzt-Leser starteten vor kurzem zu einer Expedition. In eine Gegend, in der alle schon mal waren. Zu Abgründen, die sie bisher übersehen haben.
„Nebenschauplätze“ heißt der Stadtrundgang, den Hinz & Kunzt seit einem halben Jahr veranstaltet. Etwas unspektakulär mutet die Route an, sie führt rund um den Hauptbahnhof und die Mönckebergstraße entlang. Erst die sachkundigen Führer machen die Tour interessant: Stephan Karrenbauer, Sozialarbeiter bei Hinz & Kunzt, sowie Fred und Peter, Hinz & Kunzt-Verkäufer, die selbst mehrere Jahre auf der Straße gelebt haben. Sie zeigen, wie die „Randgruppen der Gesellschaft“ mitten in der Stadt leben – und hier, wo andere shoppen oder in Cafés sitzen, ums Überleben kämpfen müssen. „Diese Tour regt jeden zum Nachdenken an“, ist Karrenbauer überzeugt.
Einer der Abgründe, zu denen Stephan Karrenbauer, Fred und Peter ihre Gruppe führen, ist Peek & Cloppenburg. Zur Verwunderung der Kaufhauskunden wird hier heftig über ein kleines Detail in der Fassade diskutiert. Eine Düse, unscheinbar auf Kniehöhe neben dem Eingang angebracht. Tagsüber harmlos. Doch nachts sprüht sie manchmal Wasser in den Eingang. „Pennerdusche“ nennen die Obdachlosen diese Erfindung. „Als es sie noch nicht gab, nutzten viele den Eingang als Platte, als wind- und wettergeschützten Schlafplatz“, sagt Fred. Der P&C-Geschäftsleitung war das ein Dorn im Auge. Wer jetzt unvorsichtig ist und hier seinen Schlafsack ausrollt, wird nass – gefährlich für einen Obdachlosen, der eine kalte Nacht vor sich hat und nicht mal schnell die Klamotten wechseln kann. „Das hätte ich von P&C nicht gedacht“, kommentiert Stefan Witt.
Aber das oft angespannte Verhältnis zwischen Geschäftsleuten und Obdachlosen trägt auch andere Früchte: zum Beispiel den Stützpunkt bei der Petrikirche. In dem umgebauten Toilettenhäuschen können Obdachlose tagsüber umsonst ihr Hab und Gut einschließen. „Natürlich eine große Erleichterung für die Obdachlosen, nicht den ganzen Tag alles mit sich herumtragen zu müssen“, so Karrenbauer. Möglich gemacht durch Spenden der Geschäftsleute in der City. Etwas Eigennutz war natürlich auch dabei, trübt doch ein Wohnungsloser, der nicht von Tüten und Taschen umgeben ist, weniger das Stadtbild.
Neben den zwei Welten, die in der Mönckebergstraße aufeinander prallen, zeigt der Stadtrundgang auch die sozialen Brennpunkte in St. Georg. Wie den Hauptbahnhof, vor dem sich schon früh eine Menschentraube zum Biertrinken bildet. „Weiter in den Bahnhof dürfen sie nicht“, erklärt Karrenbauer. Darauf achten Polizei und Sicherheitsdienste. Wer als abhängig oder obdachlos auffällt, muss – aus Rücksicht auf die Reisenden der Deutschen Bahn – draußen bleiben. Dazu dudelt klassische Musik aus den Lautsprechern im Eingangsbereich der Wandelhalle. Eine weitere „abgründige“ Idee, wie möglichst unauffällig unbeliebtes Klientel das Leben schwer gemacht werden kann. „Die Musik läuft nicht zur Unterhaltung. Die Endlosschleife nervt nach kurzer Zeit so sehr, dass sich hier niemand gerne länger aufhält“, erklärt Karrenbauer. Trotzdem bleibt der Bahnhof Anziehungspunkt für alle Hamburger: „Gehen Sie mal in eine der Kneipen im Bahnhof“, empfiehlt Karrenbauer den Stadtrundgängern, „die sind immer voll, und sie werden leicht Kontakt bekommen. Die Kneipen werden meist nicht von Reisenden genutzt, sondern sind Treffpunkt für Menschen, die sich einsam fühlen.“
In St. Georg gibt es aber auch einige Orte, wo nicht vertrieben, sondern geholfen wird. Wie die Tagesaufenthaltsstätte für Obdachlose Herz As oder die Drogenhilfe Drob Inn, die mittlerweile ins Wüstenrothaus umgezogen ist. Hier können sich Süchtige beraten lassen und unter ärztlicher Aufsicht konsumieren. An diesem Punkt der Tour bekommt Hinz & Künztler Peter „immer ein schlechtes Gefühl im Magen“. Er war selbst heroinabhängig, und die Angst vor einem Rückfall plagt ihn vor allem an solchen „Junkietreffpunkten“.
Trotzdem hat er nie darüber nachgedacht, den Job als Stadtführer wieder an den Nagel zu hängen. Dabei geht es Peter, der einen Teil der Einnahmen bekommt, nicht nur ums Geld. Viel wichtiger sind ihm die Gespräche mit den Rundgangsteilnehmern. „Viele fragen mich, wie mein Leben aussah, bevor ich auf der Straße gelandet bin“, sagt der Hinz & Künztler, „aber auch, welche Perspektiven ich sehe, wie es im Knast war, wie es ist, abhängig zu sein.“ Ehrlichkeit, auch bei persönlichen Fragen sind für Peter selbstverständlich: „Ich habe gemerkt, dass die Menschen besser mit dir umgehen, wenn du ehrlich zu ihnen bist.“ Der Hinz & Künztler, der viele Jahre im Gefängnis war, dessen Ehe an seiner Spielsucht zerbrach und der die schmerzvolle Erfahrung des Heroinentzugs gemacht hat, will vermitteln, was es bedeutet, ganz unten zu sein. „Ich zeige den Leuten, dass Leben auf der Straße nichts mit Friede, Freude, Eierkuchen zu tun hat. Es ist hart und anstrengend.“ Manchmal gelingt das: „Schon mehrere Teilnehmer haben am Ende des Rundgangs zu mir gesagt, dass sie Hinz & Künztler jetzt mit anderen Augen sehen.“
Marc-André Rüssau
Die Stadtführung „Hamburgs Nebenschauplätze“ startet einmal im Monat. Kostenbeitrag: 10 Euro. Anmeldung per E-Mail: info@hinzundkunzt.de oder telefonisch unter 321 08 311