„Wohnen auf dem Wasser“ lautete 2004 eine Initiative des damaligen Hamburger Senats. Schon bald sollten sich zahlreiche Hausboote auf den Kanälen der Hansestadt tummeln. Doch bislang ist – abgesehen von einem Pilotprojekt am Eilbekkanal – wenig passiert. Der Grund: zu hohe Kosten und komplizierte Genehmigungsverfahren. Die Hausbootbesitzer im Spree- und Holzhafen nutzen ihre Schiffe als Firmensitz – und genießen ihre Freizeit auf der Elbe.
(aus Hinz&Kunzt 231/Mai 2012)
Die Meerjungfrau kam über Nacht. Räkelte sich eines Morgens wie selbstverständlich in den ersten Sonnenstrahlen an Deck der „Arakka“, wo Axel Cord sie entdeckte. „Ich weiß bis heute nicht, woher die Skulptur plötzlich aufgetaucht ist“, sagt der Hausbootbesitzer und zupft an seinen Hosenträgern. „Von den Nachbarn war’s jedenfalls keiner.“
Die Meerjungfrau kam über Nacht. Räkelte sich eines Morgens wie selbstverständlich in den ersten Sonnenstrahlen an Deck der „Arakka“, wo Axel Cord sie entdeckte. „Ich weiß bis heute nicht, woher die Skulptur plötzlich aufgetaucht ist“, sagt der Hausbootbesitzer und zupft an seinen Hosenträgern. „Von den Nachbarn war’s jedenfalls keiner.“ Vielleicht ist „aufgetaucht“ deshalb schon das richtige Stichwort. Kann ja sein, dass die junge Dame mit dem schuppigen Unterkörper direkt aus der Elbe auf Axels Boot gehüpft ist, bevor sie versteinerte. Denn wer wollte hier nicht ein Weilchen entspannen, direkt hinterm Deich, im Wilhelmsburger Spreehafen? Axel, seine Frau Christine und ihr kläfffreudiger Hund Enno genießen zumindest jede Sekunde auf ihrem Hausboot.
„Zwei Jahre habe ich daran rumgefrickelt“, erzählt Axel stolz. Fast alles habe er selber gebaut, auch bei der Heizungsanlage unter Deck. Nur für den Rohbau aus Holz und „fürs Grobe“, da wo Brecheisen gefragt waren, orderte er Unterstützung. Vor dem Umbau war die „Arakka“ eine einfache Schute, die Axel als Werkstatt nutzte. Aber irgendwann, als die ersten Hausboote an den Liegeplätzen nebenan festmachten, dachte der 70-Jährige: „Das will ich auch!“ Mit Kreide malte er direkt aufs Deck, wo was hinkommen sollte: „Hier das Arbeitszimmer, da die Küche, dort das Klo.“ Dann besorgte er sich ein Architektenprogramm für den Computer und rechnete alles durch. Damit überzeugte er auch seine Frau Christine. „Anfangs war ich skeptisch“, sagt sie. „So ein Hausboot bedeutet ja jede Menge Arbeit, es gibt ständig irgendwas zu reparieren. Aber letztlich war es eine Frage des Vertrauens.“
Und Axel erfüllte sich mit dem Umbau einen langgehegten Traum. Schon als Zehnjähriger habe er seiner Mutter ab und zu Haushaltsgeld stibitzt, um sich ein Segelboot auf der Alster zu mieten. „Damals brauchte man noch keinen Segelschein dafür, das ging einfach so“, erinnert er sich. An den Wochenenden fuhr er mit der Familie zum Ratzeburger See, hier kaufte er sich als Jugendlicher auch das erste eigene Segelboot. Auf der Elbe ging es mit einem Motorboot weiter – „sonst kommt man ja nicht voran“ –, Urlaube verbrachte er auf Nord- oder Ostsee. Und auch beruflich suchte Axel die Nähe zum nassen Element: Als Tontechniker und Taucher beim NDR begleitete er zahlreiche Aufnahmen unter Wasser, heute stellt er sein Know-how und die nötige Ausrüstung interessierten Drehteams zur Verfügung – Firmensitz für seinen „maritimen Film- und TV-Service“ ist natürlich die „Arakka“.
An Ruhetagen beobachtet er hier vom Liegestuhl an Deck aus die weißen Schaumköpfe auf der Elbe oder lauscht dem Möwengeschrei. Vor ihm die hübsche Meerjungfrau, die er, versehen mit einer großen Glasplatte, kurzerhand zum Tisch umfunktioniert hat. Längst reagiert er gelassen, wenn das Boot bei „ordentlich Wind“ in Schieflage gerät und drinnen das Honigglas von der Anrichte rutscht. „Ich liebe es einfach, mit der Natur, mit den Elementen zu leben“, sagt er. „Wo könnte ich das besser als hier?“
Gleichzeitig schätzt er die Ruhe, den Abstand zu anderen Menschen. Zwar liegen die nächsten Hausboote direkt nebenan, doch hier mache trotzdem jeder „so sein Ding“. „Das ist nicht wie im Schrebergarten, wo alle über die Gartenzäune hinweg quatschen“, sagt Axel. „Wir sind hier eher Eigenbrötler.“ Auch bei schlechtem Wetter flieht Axel deshalb nicht ins Getümmel der Innenstadt, sondern bleibt gerne an Bord. Dann macht er es sich vor dem Ofen bequem, holt sein Saxophon raus und jazzt ein paar Takte – neben dem Wasser seine zweite Leidenschaft. „Mein einer Großvater war Musiker, der andere Seemann“, erklärt er lächelnd. „Ich bin beides.“
Ein paar Kilometer weiter, im Holzhafen bei Kaltehofe, steht Christa Bertling an Deck ihrer „Trudel Op“, flankiert von den Hunden Canela und Roma. Eine Meerjungfrau hat sie nicht zu bieten, dafür eine Ente, die friedlich in einem Blumenkübel brütet. Christa schaut bei ihrer neuen Mitbewohnerin kurz nach dem Rechten, dann geht sie wieder ins Schiff, setzt sich in die Küche und schnappt sich ihre Kaffeemühle. Christa lebt seit mittlerweile 35 Jahren auf und mit dem Wasser, sei davor allerdings „eher Landratte als Piratenbraut“ gewesen. Zwar liebte die 58-Jährige schon als „lütte Hamburger Deern“ die Elbe und den Hafen, aber sie träumte nicht unbedingt davon, selber mal ein Schiff zu steuern, geschweige denn auf einem zu leben: „Ich war höchstens mal mit dem Alsterdampfer unterwegs.“ Auch ihre Berufswahl hatte nichts mit Wellen, Wind und Weite gemein: Sie wurde Zahntechnikerin. Dann lernte sie Mitte der 70er Holli kennen, ihren späteren Mann. „Ich traf ihn in einer Kneipe, wo er den ganzen Abend nur von seinem Hausboot geschwärmt hat“, erzählt sie. „Da wurde ich neugierig.“ Kurz darauf zeigte Holli ihr das Boot. „Das war Liebe auf den ersten Blick“, sagt Christa. Dann lacht sie. „Ich weiß nur nicht, ob das mehr für den Mann oder das Boot galt.“
Letztlich reicht die Liebe für beide: Schon vier Wochen nach dem ersten Treffen leben Christa und Holli gemeinsam auf dem Boot in Kaltehofe und kaufen mit Christas Ersparnissen gleich noch ein zweites. „Ich war sofort infiziert“, sagt Christa. „Besser kann ich es nicht erklären. Ich wollte einfach nur noch auf dem Wasser sein.“ Holli und sie planen einen einjährigen Urlaub an Frankreichs und Spaniens Küsten,
natürlich auf einem Boot. „Es sind dann fünf Jahre geworden“, erzählt Christa fröhlich. „Eine tolle Zeit.“
Glücklich „aber ziemlich pleite“ kehren sie schließlich nach Hamburg zurück, machen sich „nach einigem Rumprobieren in verschiedenen Jobs“ als Fahrlehrer mit „Mützes Sportbootschule“ selbstständig: Aus der „Trudel Op“ wird ein schwimmendes Klassenzimmer, fürs richtige Flair sorgen Tische, Stühle und Pulte aus einer Rahlstedter Schule: „Der Mann einer Fahrschülerin war dort Hausmeister“, erzählt Christa. „Der hat die Möbel besorgt.“ Sie guckt sich zufrieden um, hat hier alles, was sie braucht, obwohl eigentlich so manches fehlt: Auf der „Trudel Op“ gibt es kein Klo, das Wasser für Yogi-Tee und Kaffee schleppt Christa mit Kanistern heran. Wenn es kalt wird, schmeißt sie den Ofen an, als Anzünder fürs selbstgehackte Brennholz müssen dann schon mal ein paar alte Theoriebögen dran glauben. Es ist kein einfaches Arbeiten, aber Christa will es so, auch nach dem Tod ihres Mannes vor vier Jahren.
Sie braucht das sanfte Schaukeln, den Blick in die Ferne, das Weite, das Offene. Wenn sie ihre Mutter in der Stadt besuche, heiße es hingegen ständig: „Mach mal die Tür zu“, oder „Mach mal die Fenster zu.“ Christa schüttelt den Kopf. „Da kriege ich jedes Mal einen Koller.“ Sie schaut nach draußen, krault ihre Hunde, nippt an der Kaffeetasse. Und spürt: „Ein Gefühl von Freiheit.“ •
Text: Maren Albertsen
Foto: Evgeny Makarov