Anfang der 1970er-Jahre packten 200 Hamburger ihren Traum vom besseren Wohnen an. In einem Wohnblock in Steilshoop wollten sie mehr Demokratie und eine bis dahin nicht dagewesene Art des Zusammenlebens mit Menschen aus allen Schichten. Konnte das gut gehen?
(aus Hinz&Kunzt 231/Mai 2012)
Über das „Wohnprojekt Steilshoop“ haben wir 40 Jahre später mit seinem Architekten Rolf Spille und den damaligen Bewohnern Thomas Deuber und Erhard Buschmann gesprochen. Einen „Albtraum vom Reißbrett für 25.000 Menschen“ nennt der NDR 1972 das sich im Bau befindliche Steilshoop. 20 Wohnblöcke mit Tausenden Wohneinheiten werden im Hamburger Nordosten innerhalb von drei Jahren hochgezogen.
Eile tut Not, denn als Spätfolge des Zweiten Weltkrieges und neun Jahre nach der großen Sturmflut herrscht in der Hansestadt eine dramatische Wohnungsnot. Vierköpfige Familien hausen zum Teil auf 40 Quadratmetern. Studenten finden erst gar keine Bleibe. Hamburg ist zu klein für die Hamburger, vor allem für solche mit wenig Geld. Doch der Senat hat einen Plan: Nicht nur in Steilshoop, auch am Osdorfer Born und in Mümmelmannsberg entstehen sogenannte Schlafstädte. Allerdings entscheiden Architekten und Bauherren, wie diese Siedlungen aussehen sollen.
Damit werden auch die Menschen zu Planungsobjekten, konstatiert nicht nur der NDR. Von einem humaneren Leben in der Großstadt und Mitspracherecht nicht nur für die, die ihre Wünsche selbst bezahlen können, träumen 500 Menschen, die sich im Verein „Urbanes Wohnen“ zusammengetan haben. Sie schwärmen von Mitbestimmung beim Wohnungsbau und schimpfen über die fantasielose Art, Wohneinheiten zu planen statt Lebensräume.
Warum muss das Schlafzimmer 16 Quadratmeter haben, das Wohnzimmer 20 und das Kinderzimmer gerade so groß sein, dass zwei Betten, ein Schrank und ein Tisch hineinpassen und dann noch 2,2 Quadratmeter Platz zum Spielen bleiben? Das fragen sich die Vereinsmitglieder. Selbst planen müsste man dürfen!
„Lass uns das machen!“, findet Rolf Spille. Der Architekt ist Mitbegründer des Vereins „Urbanes Wohnen“ und hat genug vom Schnacken gemäß seinem Leitspruch „Das Kriterium der Wahrheit ist die Praxis.“ Den benutzt er Anfang der 70er-Jahre genauso wie heute, als er davon erzählt, wie er vor 40 Jahren „den Verein gespalten“ hat. Zum damaligen Bausenator Caesar Meister sei er marschiert und habe ihm seine Idee vorgestellt: Ein Wohnprojekt, finanziert mit den Mitteln des sozialen Wohnungsbaus, aber von vornherein anders gedacht. Einziehen sollen ganz unterschiedliche Menschen: Arbeiter und Studenten, Großfamilien und Wohngemeinschaften. Und bei der Raumaufteilung sollen die künftigen Mieter mitreden. Außerdem sollen sich die Projektbewohner gemeinschaftlich selbst verwalten und füreinander Verantwortung übernehmen, insgesamt: „Mehr Demokratie wagen!“ Von diesem Satz des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt in seiner Regierungserklärung 1969 ließ Spille sich inspirieren.
Ja sagt dazu Senator Meister und ja sagt auch die Saga, Eigentümerin des „Block 6“ in Steilshoop und künftige Vermieterin. Es ist beschlossen. Doch dass die Vision Wirklichkeit werden soll, schmeckt nicht allen Mitgliedern des Vereins „Urbanes Wohnen“, sagt Rolf Spille. Die einen machen Ernst und gründen einen neuen Verein „Wohnmodell Steilshoop“. Doch andere, mehr als die Hälfte der bisherigen Vereinsmitglieder, ziehen nicht mit. „Die diskutieren wahrscheinlich immer noch“, sagt der heute 67-jährige Spille.
Es folgte eine Zeit des Aufbruchs: Zwei Jahre planen Spille und 200 künftige Steilshooper ihre Insel des Anderslebens in der Satellitenstadt, unterteilen ihren Block in größere und kleine Einheiten, für vierköpfige Familien oder WGs mit bis zu 18 Personen. In jedem Stockwerk gibt es Individual- und Gemeinschaftsräume. Die Mieter verwirklichen ihre Vorstellungen von Raumaufteilung. Das geht, weil Spille eine Baustruktur entwickelt hat, die fast alle Grundrisswünsche möglich macht. Es gibt weniger tragende Wände, dafür mehr aus Rigips, die je nach Bedarf aufgestellt und sogar umgesetzt werden können. Letztlich entscheiden sich vor allem Arbeiterfamilien doch für eine klassische Raumaufteilung. Mutiger sind da die Wohngruppen. Eine besteht darauf, dass ihr Flur bloß 1,10 Meter breit sein soll. Spille warnt, die Gruppe beharrt. Letztlich bekommt sie ihren schmalen Flur. 40 Jahre später resümiert Thomas Deuber, der in eben dieser Gruppe lebte: „Das war ein Fehler, das war der reinste Zickzacklauf. Wir hätten auf die Architekten hören sollen.“ Doch das Projekt will eben Ernst machen mit Eigenverantwortung und Mitbestimmung. „Wenn man das Recht auf Freiheit in der Planung hat, hat man auch das Recht, Fehler zu machen“, sagte Rolf Spille damals dazu.
Bewohner Thomas Deubner: „Das Projekt war spannend, der Stadtteil nicht so“
Der Architekt steuerte selbst eine der abgefahrensten Ideen bei: Er schlug ein „Kommunkationsbad“ vor, mit zwei Badewannen. „Da können vier Personen gleichzeitig baden und – na ja – kommunizieren.“ Die Idee wird für originell befunden, doch in seiner Wohnung will dann doch keiner ein Kommunikationsbad. Im Sommer 1972 ziehen 220 Menschen in ihr Wohnprojekt in Steilshoop. Spille sucht und findet in der Kirchengemeinde St. Petri sogenannte „Randständige“, die zu den Idealisten des Vereins stoßen: kinderreiche Familien und ehemals Strafgefangene, die zu „rehabilitieren“ waren. Damit die Idee der sozialen Durchmischung kein Papiertiger bleibt. Spille selbst zieht nicht mit ein. „Ich wollte das Ganze von außen betrachten“, sagt er dazu. Außerdem: „Ich hatte ja meine WG.“ Mit insgesamt acht Mann, darunter Otto Waalkes und Udo Lindenberg, lebte Spille in einer legendären Wohngemeinschaft am Rondeelteich in Winterhude.
Wo auch einige der Neu-Steilshooper sich gerne niedergelassen hätten. Denn die Schlafstadt nehmen viele eher zähneknirschend in Kauf. Das erzählt Thomas Deuber, der 1972 mit einzog. „Das Projekt war spannend, der Stadtteil nicht so“, formuliert er es heute. Eine direkte Anbindung an die Hamburger Innenstadt fehlte – und gibt es bis heute nicht. Die Einkaufsmöglichkeiten waren begrenzt, von kulturellen Angeboten ganz zu schweigen. Nicht mal eine Kneipe gab es. Für Ersatz sorgen die Wohnprojektler selbst: Sie planen einen Nachbarschaftstreff, der auch Anziehungspunkt für die Bewohner anderer Wohnblöcke sein soll.
Der NDR berichtet: „Es soll alkoholfreie Getränke und Rosinenkuchen geben.“ Die Bewohner wollen von Anfang an mehr gemeinsam haben als die Treppenaufgänge. Sie finden sich in Arbeitsgruppen zusammen: Die AG Kommunikation soll die Hausbewohner über Wissenswertes aller Art informieren. Sie wird allerdings schnell zur Pressestelle, denn für das außergewöhnliche Wohnprojekt interessiert sich nicht nur der NDR, sondern Journalisten aus der ganzen Welt. „Einmal kam sogar ein Kamerateam aus Japan“, erinnert sich Rolf Spille. Im Projekt sollen die Kinder gemeinsam erzogen werden. Praktisch geschieht das im Souterrain, das zur Kita wird. Über das pädagogische Konzept berät die AG Kind.
Den „Randständigen“ hilft die AG Soziales. Drei Familien mit bis zu acht Kindern leben im Projekt, dazu einige alleinerziehende Mütter. Für die Kleinen gibt es kostenlose Hausaufgabenhilfe, die Mütter werden zum Discounter gefahren. „Anfängliche Versuche, auf den Konsum Einfluss zu nehmen, wurden schnell aufgegeben“, kommentiert der NDR. Auch wer Schulden hat, dem soll geholfen werden: Die AG-Mitglieder sprechen mit Gläubigern und Banken, unterstützen bei der Umschuldung. Ob das so optimal ist, fragt sich schon nach wenigen Monaten einer aus der Arbeitsgruppe: „Da musste die Initiative ja von uns übernommen werden, beim Anschreiben von Gläubigern. Das hieß automatisch, diese Familie zu beschneiden.“ Positiv überrascht sind hingegen die betreuten Familien: „Diese Kameradschaft und so. Wenn man jemanden braucht, ist jemand da. Das kennt man gar nicht“, sagt eine der Mütter.
Das Projekt und seine Bewohner sind vor allem eins: ganz schön mutig. Sie laden Menschen ein, die sich sonst kaum jemand als Nachbarn wünscht, wie ehemalige Strafgefangene.
Bewohner Thomas Deuber findet das bis heute toll. „Man lernte ganz unterschiedliche Leute kennen: Es gab die kinderreichen Familien, die Knackis, eine Schwulen-WG.“ Menschen, denen der Gesamtschullehrer woanders wohl nie nahegekommen wäre. Er gehörte zu den politisch Engagierten im Projekt. Er nahm an AG-Sitzungen teil und an den Vollversammlungen, dem „Hausrat“. Außerdem setzte er sich in der Anti-AKW-Bewegung ein. Neben dem Berufsleben eine hohe zeitliche Belastung. Die führte dazu, dass er kaum noch aus dem Viertel rauskam. Deuber unterrichtete nämlich an der neuen Steilshooper Gesamtschule. Trubel rund um die Uhr, vor allem in der großen Wohngemeinschaft. Es sei kaum möglich gewesen, sich in der gemeinsamen Küche ein Brot zu schmieren, ohne kommunizieren zu müssen: „Man musste sich ständig mit anderen beschäftigen“, sagt Deuber heute. Er floh so oft wie möglich. „Angefangen hat es mit Besuchen in befreundeten WGs am Stadtrand.“
Dann hatten einige Projektbewohner selbst Datschen. Da waren sie am Wochenende lieber als zu Hause, auch weil der Steilshooper Block schnell ein „verwohntes, ungepflegtes Flair“ hatte, erinnert Deuber sich: abgenutzte Türen, Müll im Hausflur, beschmierte Wände. „Ehrlich gesagt haben wir nicht viel dafür getan, dass wir uns dort zu Hause fühlen konnten.“ Weil sich alles ums Projekt drehte, in dem er sich immer unwohler fühlte, zog er nach rund fünf Jahren aus.
Da waren die meisten der ersten Bewohner schon nicht mehr da. Architekt Rolf Spille erinnert sich: „Wer es sich leisten konnte, zog nach Eppendorf.“ Oder gleich ins Eigenheim im Speckgürtel der Stadt. Spille glaubt: „Die Bessergestellten waren es müde, ins Projekt einzuzahlen.“ Zum Projekt gehörte ein Solidaritätsfonds. Aus diesem Topf wurden finanziell schwache Bewohner unterstützt, auch mal ein Mietausfall beglichen. Nur dass die Solidarität so aussah, dass einige immer einzahlten und davon wenig hatten. Lange ging das nicht gut.
Die Fluktuation war groß
Erhard Buschmann zieht 1979 ein. Mit langen Haaren und Vollbart sieht er anders aus als der Großteil der Menschen, die in Steilshoop leben. Und Buschmann will auch anders sein. Anders als die Leute, die „sonntags mit Schlips, Bundfaltenhose und Hut spazieren gingen, und sei es nur um den Bramfelder See“. Er will eine andere Lebensform als die, die seine Eltern gewählt hatten: „Die Wohngemeinschaft war für mich das Gegenmodell zur Kleinfamilie.“ Erhard Buschmann fasst es zusammen: „Wir waren Hippies.“ Doch nicht alle Bewohner wurden wie Buschmann von der Projektidee selbst angezogen. Einige brauchten schlicht eine angemessene Wohnung zum bezahlbaren Preis. Sie wollten billig wohnen, hatten aber keine Zeit, keine Kraft oder keine Lust, an der Utopie mitzuarbeiten, von der die Vereinsmitglieder geträumt hatten. Einige solcher Bewohner vertrug das Projekt. Doch das Verhältnis kippte. 1979 war der projekteigene Kindergarten ganz in den Händen des Roten Kreuzes. Die Vollversammlungen gab es noch, die meisten Arbeitsgruppen nicht mehr. Und: Dass jemand das Projekt toll findet, war kein Kriterium mehr bei der Auswahl von Mitbewohnern. Denn die schlimme Wohnungsnot in der Stadt hatte sich beruhigt und Steilshoop hatte längst seinen Ruf weg.
Tageszeitungen berichten in den 70er-Jahren ständig von Schießereien und Messerstechereien, von brennenden Kellern oder Wohnwagen, von Einbrüchen und Diebstählen. Hier zog nur hin, wer keine Alternative fand. Die Folge fürs Wohnprojekt: Die Fluktuation war groß, genauso wie der Leerstand. Doch mit der Saga gab es die Vereinbarung, dass der Verein die Miete für alle Wohnungen zahlt, egal, ob darin jemand wohnte oder nicht. Also galt es natürlich, so viele Wohnungen wie möglich zu vermieten. Auch ein paar Anhänger der aufkommenden Punkbewegung landeten in Steilshoop. „Denen war vieles egal,“ sagt Erhard Buschmann. Die Steilshooper Punks lebten in einer 5er-WG, hatten aber immer viel Besuch. Und alle zusammen, sagt Erhard Buschmann, haben „ihre Abgrenzung gegen materielle Werte massiv zum Ausdruck gebracht“. Fast schon eine urbane Legende: Als den Punks einmal das TV-Programm nicht gefiel, warfen sie das Fernsehgerät kurzerhand durchs Fenster im vierten Stock.
Das Projekt stieß Ende der 70er-Jahre an seine Grenzen. „Wir waren von Anfang an überfordert“, sagt Thomas Deuber und meint vor allem die Idee, sich umeinander zu kümmern. Erhard Buschmann glaubt, dass das Projekt finanziell nicht optimal geplant war: „Unter dem Erwartungsdruck, etwas zu verändern konnte es nicht bestehen bei den Bedingungen.“ Der Kostenrahmen war eng, er musste dem des sozialen Wohnungsbaus entsprechen. Buschmann unterstellt: „Dem Senat ging es um Kostenersparnis. Die wollten, dass finanziell Schwache von anderen mitversorgt werden.“ Denn das Wohnmodell scheiterte letztlich auch daran: Rund 150.000 Mark Mietrückstände bei der Saga hatten sich angesammelt, weil immer öfter Wohnungen leer blieben. Der Solidaritätsfonds war ausgeschöpft.
Die verbliebenen Bewohner machten sich an die Abwicklung des Projekts und verhandelten mit der Saga. Schließlich machte diese umfangreiche Zugeständnisse: Erlass der Mietrückstände, neue Wohnungsvorschläge für die Bewohner und Kostenübernahme der Umzüge. Das war nach knapp zehn Jahren das Ende des Wohnmodells Steilshoop. Einziges sichtbares Erbe des Projekts heute: Den Häusern am Gropiusring fehlen die für Steilshoop typischen Balkone zum Innenhof. Beim Bau hatten die Modellmieter beschlossen, darauf zu verzichten und lieber eine große Dachterrasse auszubauen. Die gehört heute zu bestimmten Wohnungen der Häuser.
Versonnen schaut Rolf Spille 30 Jahre später an der balkonlosen Fassade hinauf. Für ihn war das Wohnmodell ein Experiment. Und das sei gelungen, schließlich werde man nur dann klüger, wenn man Ideen in der Praxis erprobt. Die Lehren, die der Architekt und geistige Vater des Projekts zieht: Man müsste mehr Einfluss auf die „Mischung der Bewohner“ nehmen. „Die muss der Bevölkerungsstruktur entsprechen.“ Das heißt: Nicht zu viele finanziell Schwache, nicht zu viele Akademiker. Und es war vielleicht auch ein wenig zu groß gedacht, das Ganze. Nicht nur die ganzen sozialen Ansprüche, auch die Zahl der Personen. In Einheiten von 30 oder 40 Personen, das wäre gut, überlegt Spille. Dass es in seinem Kopf ordentlich rattert, meint man fast hören zu können. Er dreht sich um, seufzt und sagt schließlich: „Das wäre schon geil, das noch mal zu machen.“
Einige Infos und Zitate sind dem Film „Wohnfriedhof oder urbanes Leben“ mit Material des NDR aus den Jahren 1972 bis 1974 entnommen (Bearbeitung: Egmond Tenten).
Text: Beatrice Blank
Foto: Mauricio Bustamante