KZ-Häftling 3105

Der Sinto Walter Winter überlebte Auschwitz

(aus Hinz&Kunzt 131/Januar 2004)

Fast alle 1000 Hamburger Sinti und Roma wurden im Nationalsozialismus deportiert. Daran erinnert eine Ausstellung in der Finanzbehörde. Einer der Überlebenden, dessen Lebensgeschichte in der Ausstellung zu sehen ist, ist der Schausteller Walter Winter.

Manchmal schreckt Walter Winter nachts aus dem Schlaf. Dann lebt er wieder in den Jahren 1943, 1944, 1945, als er in Auschwitz-Birkenau, Ravensbrück und Sachsenhausen inhaftiert war. „Ich habe das alles nur geträumt“, versucht sich der 85-jährige Sinto dann selbst zu beruhigen. „Das kann gar nicht wahr sein.“ Aber morgens, wenn er richtig wach ist, weiß er es wieder. Alle Schikanen, Demütigungen, Schläge und Morde sind passiert.

Je älter er wird, desto mehr bedrängen ihn die Bilder und Erlebnisse. Auch Erlebnisse, die andere vielleicht vergleichsweise harmlos finden. Die Entlausung etwa. Erst die kahlgeschorenen Frauen, dann die Männer. Aber wenn keine Zeit war, wurden die Männer schon mal in die Baracken getrieben, wenn die Frauen noch drin waren. „Alte Frauen, junge – alle standen sie da, nackt. Einige kannte ich sogar“, sagt Walter Winter. „Es war so entwürdigend.“

Den letzten Rest Würde bewahren – das versuchten die Häftlinge, auch wenn es meist ein aussichtsloser Kampf war. Winter, der Blockschreiber, notierte akribisch, wer in der Nacht wieder gestorben war. 15, 20 Menschen waren das manchmal. „Ich wollte, dass man wenigstens erfährt, wo wir geblieben sind, wenn alles vorbei ist.“ Und er wollte „seine“ Leute beschützen. Wenn beispielsweise wieder „Läufer“ kamen, so hießen Gefangene im Dienste der Nazis, die für die SS-Männer Frauen suchen sollten. Er schaffte es, aus seinem Block keine auszuliefern. „Nie habe ich deshalb Ärger bekommen“, sagt er. Und wenn doch? Winter zuckt mit den Schultern. „Ich habe sowieso nicht gedacht, dass ich diese Zeit überleben würde“, sagt er.

Mehrfach hatte er mit dem Leben abgeschlossen. Zum Beispiel, als er erschossen werden sollte. Zwei Männer waren in die Baracke der Sinti gelaufen und hatten sich dort versteckt, ein Aufseher hinterher. Der Aufseher fragte, wer die Männer gewesen seien. „Ich hatte wirklich niemanden gesehen“, sagt Winter. Da griff sich der Mann wahllos zehn Sinti. „Wenn derjenige nicht sofort vortritt…“ Mehr brauchte er nicht zu sagen. Ein Jude stellte sich. Der zweite war abgehauen oder untergetaucht. Als „Ersatzmann“ nahm der Aufseher Winter mit. Draußen knallte er den Juden ab. „Das war’s, dachte ich“, sagt Winter. „Vor meinem geistigen Auge lief mein Leben wie ein Film ab.“ Aber dann nahm der Mann seine Pistole runter und sagte nur: „Hau ab.“

Später wurde Winter zum Dienst im Krematorium eingeteilt. Er wusste, die Menschen, die dort arbeiten, werden spätestens nach drei Monaten selbst vergast. Winter hatte schon Furchtbares vom Krematorium gehört: So viele Menschen wurden nach der Vergasung dort verbrannt, dass die Schornsteine barsten und Eisenringe sie stützen mussten. Trotzdem war er nicht darauf gefasst, was ihn erwartete. „Es lagen Berge von Toten dort, starr und ineinander verkrampft. Wir mussten sie auseinander zerren und wegschaffen.“ Aber die Leichen ließen sich nicht trennen. „Plötzlich fiel mir auf, dass in der Ecke eine Axt stand“, sagt Winter. Er fragte noch, was denn die Axt hier zu suchen habe – und wusste es noch im selben Moment. An diesem Abend beschloss er, nie wieder ins Krematorium zurückzukehren, komme, was da wolle. Und wie durch ein Wunder wurde er dort auch nicht vermisst.

Eine seiner schmerzlichsten Erinnerungen ist der Tod seiner Freundin. Vor Winters Baracke standen SS-Männer, er hörte, dass sie gleich kommen wollten. Da sprang seine hochschwangere Freundin durchs Fenster herein – was eigentlich streng verboten war. Walter Winter war verzweifelt. Wenn sie die Frau hier fänden, müssten bestimmt mehrere dran glauben. Er versuchte, seine Freundin von sich wegzureißen. „Aber sie weinte und klammerte sich an mich.“

Gerade noch rechtzeitig schaffte er es, sie – fast grob – aus dem Fenster zu bugsieren. „Es war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe“, sagt Walter Winter leise. Ein paar Tage später wurde ihr Kind geboren und starb, wieder ein paar Tage später verblutete seine Freundin.

Winter und sein Bruder Erich schworen sich, dass sie – falls es sie erwischen würde – wenigstens versuchen würden, „einige von diesen Mördern mitzunehmen“. So wie jene französische Schauspielerin, die bei ihnen im Lager war. Sie sollte sich vor den Schergen nackt ausziehen – es war klar, was die Männer vor ihrer Vergasung mit ihr vorhatten. Da riss sie einem Bewacher die Pistole aus dem Halfter und schoß.

Der Albtraum ist für Winter auch jetzt, Jahrzehnte später, nicht vorbei. Der Nationalsozialismus und die Verfolgung waren unfass-bar grausam, aber Außenseiter waren die Sinti schon vor den Nazis – und danach auch. In den zwanziger Jahren fuhr seine Familie – fünf Brüder, fünf Schwestern und die Eltern – in Norddeutschland zwischen Leer und Oldenburg als Pferdehändler und Artisten umher. Wenn die Winters wieder mal von einem Markt zum anderen zogen, gab’s Begleitung. Gendarmen ritten neben dem Pferdewagen her. „Damit uns auch ja nichts passieren konnte“, sagt Walter Winter ironisch. In Wirklichkeit natürlich, um die Sintis zu observieren. Und um sicherzugehen, dass sie auch nach dem Markt schnell wieder verschwanden und sich nicht in dem Ort „festsetzten“.

Alle paar Tage gingen die Kinder in eine andere Schule, dann ging’s wieder weiter. Die Mitschüler waren teils neugierig auf die „Zigeunerkinder“, teils misstrauisch. Oft endete der kurze Kontakt mit einer Schlägerei auf dem Schulhof. Trotzdem gab es Annäherungen. In Oldenburg und Cloppenburg, wo die Familie länger lebte, waren Walter und sein Bruder Mitglied im Fußballverein. Doch nach dem Krieg stellte sich heraus, dass die Namen der Winters im Fußballverein gelöscht worden waren, ebenso der Name eines jüdischen Sportfreundes.

1933 verschärfte sich die Situation. Walter Winters Vater beschloss, Schausteller zu werden: „Wir müssen uns unters Volk mischen“, sagte er zu seiner Familie. Es war zu gefährlich geworden, allein oder mit anderen aus der Sippe über Land zu fahren. Die Familie kaufte eine Schießbude für den Jahrmarkt. Aber auch hier waren die Winters nicht sicher. „Auf einmal tauchten so auffällig unauffällige Männer auf“, sagt Winter. Gestapo. Die gingen zwischen den Buden längs und guckten, wer „fremdländisch“ aussieht.

Das Netz zog sich dichter zusammen. 1935/36 – die Familie war gerade in Oldenburg – kamen wieder Beamte und nahmen Vater und Mutter mit. Danach die Kinder. Von allen Seiten wurden sie für die Kartei fotografiert und registriert. „Wie Schwerverbrecher“, sagt Winter. „Obwohl wir nichts getan hatten.“ Trotzdem erhielt er seinen Gestellungsbefehl und kam im Januar 1940 zur Wehrmacht. Zwei Jahre diente Walter. Dann wurde er entlassen, eben weil er „Zigeuner“ war.

1943 wurden er, sein älterer Bruder Erich, der auch ehemaliger Wehrmachtssoldat war, und seine Schwester Marie nach Auschwitz deportiert. Alle drei überlebten und kehrten zu ihrer Familie zurück. In Vechta, wo die Winters die Erlaubnis holen mussten, ein Varieté zu gründen, saß nach dem Krieg noch derselbe Bürgermeister, der für die Deportationen der Familie mitverantwortlich war. Er verweigerte den Winters die Genehmigung. Sie sollten sich erst mal entnazifizieren lassen, sagte er. Walter Winter, der auf dem Arm die KZ-Häftlingsnummer 3105 trägt, war fassungslos.

Auch heute noch spürt Walter Winter, der seit 1952 mit seiner Frau und seinen Kindern in Hamburg und seit 27 Jahren in St. Pauli lebt, oft die Zurückhaltung gegenüber seiner Herkunft. „Wenn ich sage, dass ich Sinto bin, rücken viele, die mich vorher unbefangen behandelt haben, von mir ab.“

Der Hass ist milder geworden, aber die Wut ist noch da. Dann setzt er sich vehement gegen die Leute zur Wehr, die heute noch abwertend von „Zigeunern“ reden oder mit anderen Worten das Gleiche meinen – und vor allem: gegen die, die glauben, dass man die Vergangenheit ruhen lassen sollte. Aber Walter Winter ist keiner, der verletzen will, er will nur nicht vergessen – und vergessen werden. Und er will nicht, dass die Roma und Sinti Außenseiter in dieser Gesellschaft bleiben. Einer Gesellschaft, in der er sich gerne heimisch gefühlt hätte

Birgit Müller

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