Die Mutmacher: Jojo

Wie ehemalige Hinz&Künztler heute leben

(aus Hinz&Kunzt 129/November 2003)

Rund 3400 Verkäufer haben seit 1993 bei Hinz & Kunzt angefangen. Vielen von ihnen ist der Ausstieg aus der Obdachlosigkeit gelungen. Wie Joachim Donath. Sein Spitzname Jojo passt zum Auf und Ab seines Lebens. Seit vergangenem Jahr steuert er 40-Tonnen-Tankwagen über Europas Straßen.

Das Kissen, ohne das Joachim Donath nicht losfährt, hat einen Fellüberzug, der einmal weiß war. Damit klettert der 50-Jährige auf den Fahrersitz der 470-PS-Zugmaschine. Mit dem Kissen verstärkt er die Rücklehne, sodass er weiter vorne sitzen kann. Sein Bauch berührt fast das Lenkrad. Ja, er hat zugenommen, seit er mit dem Rauchen aufhörte. Umso heftiger kaut er nun auf Kaugummis herum. Seine schwarze Kappe trägt er mit dem Schirm nach hinten. Ein lässiger Trucker.

Joachim Donath ist 1,37 Meter groß. Und wer als Erwachsener 1,37 Meter misst, muss mehr als andere dafür sorgen, nicht übersehen zu werden. Entsprechend energisch gibt Donath Ende der siebziger Jahre seinen Einstand in Hamburg. In einer Kneipe auf St. Pauli gerät er mit zwei Gästen aneinander. Wahrscheinlich unterschätzen die beiden seine Kraft und sein Geschick. Das ist ihr Pech. Jojo, damals Mitte 20, taucht plötzlich mit dem Kopf zwischen die Beine des Ersten, richtet sich auf, hebt den Widersacher hoch und befördert ihn durch die Scheibe nach draußen. Der zweite Gast folgt auf gleichem Wege.

Donath, der in Krefeld aufwuchs, teilte auch früher schon aus. Er verhaut Mitschüler, deren Eltern nicht glauben wollten, dass „der Kleine da“ das geschafft haben soll. Einmal würgt er einen größeren Kameraden im Schwitzkasten so sehr, dass es lebensgefährlich wird. Ein „streitsüchtiger und jähzorniger Gnom“ sei er gewesen, sagt Donath. Die Zeiten sind vorbei, der Mann ist 50 und kann einen Streit auslassen. Aber Jojo hat nicht nur Kraft, sondern auch einen schlauen Kopf. Er ist um Worte nie verlegen, mit seiner angenehmen, volltönenden Stimme kann er reden und reden. „Ich hätte beruflich etwas mit Sprachen machen sollen“, sinniert er. Ein „Sprach-Chamäleon“ sei er, und zum Beweis wechselt er für ein paar Sätze ins Englische, streut italienische, türkische und französische Brocken ein, gibt Wortspiele auf Platt zum Besten und klärt über die Sprache der Roma auf.

Aber damals, nach der Schule, war für diese Begabung kein Platz: Jojo beginnt eine Lehre als Kfz-Schlosser, die er nicht zu Ende bringt. Er arbeitet in Kanada als Taucher, möchte in Kiel sogar eine Tauch-Ausbildung beginnen, aber die Berufsgenossenschaft findet: Donath ist zu klein. 1977 kommt er nach Hamburg, schleppt im Hafen 75-Kilo-Säcke, wird Staplerfahrer und Kranführer. Die großen Maschinen, die Bagger, Kräne und die Lkws seien „wie Prothesen“. Eine kontrollierte Möglichkeit, die eigene Kraft nach außen zu übersetzen.

„Na, hast du dich kurzgelaufen?“, haben Kollegen in seinen zahlreichen Jobs gefragt. Aber das seien imme freundliche Sprüche gewesen, Verletzendes habe er von Kollegen nie gehört, sagt Donath. Eher Anerkennung, dass er anpackt wie jeder andere und sich nicht auf einen möglichen Status als Schwerbehinderter zurückzieht. Anders manche Arbeitgeber. „Wir beschäftigen keine Zirkusleute“, beschied ihm ein Bauunternehmen. Etwas feiner formulierte es eine Reederei: „Sie passen nicht in das repräsentative Gefüge unserer Firma.“

Ende der achtziger Jahre will Jojo finanziell größer werden, als er ist. Er lebt mit einer Frau und deren drei Kindern zusammen. Das Geld, das der Familie fehlt, möchte er erspielen, bei Roulette und Black Jack. Joachim Donath wird abhängig vom Glücksspiel. Einige Jahre später, die Beziehung ist längst beendet, bringt ihn die Sucht um seine Wohnung, anderthalb Jahre schlägt er sich auf der Straße durch. Voreiliges Mitleid durchkreuzt er sofort. Eine „gute Zeit“ sei das gewesen, „es entsprach meinem Unabhängigkeitssinn.“

Der Februar 1997 wird kalt. In der Innenstadt, auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz, stellt Hinz & Kunzt ein beheiztes Zelt für Obdachlose auf. Joachim Donath kommt sozusagen als Nachbar dazu, denn er macht Platte vor Karstadt in der Mönckebergstraße. Im Zelt hilft er bei der Organisation und übernimmt Nachtschichten. So entsteht der Kontakt zum Straßenmagazin. In den folgenden Monaten verkauft Donath die Zeitung und verfasst selbst Beiträge, von kecken Beobachtungen beim Betteln bis zu einem beklemmenden Bericht über seine Erfahrungen in der Psychiatrie.

Dann der Absprung aus Hamburg. Ein Kurierfahrer, der in einer Kiez-Kneipe kräftig getankt hat, sucht lallend einen Ersatzmann, der ihm den Transporter nach Schweden weiterfährt. Jojo sagt zu. Bald darauf folgt er dem Auftraggeber an den Bodensee, wo er Jobs bei Baufirmen annimmt. Donath wird „trocken“: Er spielt nicht mehr. „Die Arbeit hat mich gefordert, das Spielen wurde uninteressant.“

Inzwischen lebt Donath wieder in Krefeld, bei seiner 81-jährigen Mutter. 2001 macht er den Lkw-Führerschein. Jahrelang hatte es beim TÜV geheißen: Da müssen wir erst mal die Pedal- und Lenkkräfte messen, und dann sind da einige Auflagen nötig, und der Lkw muss umgerüstet werden. „Das hätte sich nicht gelohnt“, sagt Donath. Erst als sich ein aufgeschlossener TÜV-Mitarbeiter ansieht, wie Donath tatsächlich einen 40-Tonner lenkt, wie er schaltet und bremst, ist der Weg frei. Einzige Auflage: das Kissen vor der Rückenlehne, um die Sitzfläche zu verkürzen.

Heute arbeitet er bei der Tankwagen-Spedition Rohrbach in Krefeld. „Er hat sich ganz normal beworben“, sagt Chef Günter Rohrbach. Fuhrparkleiter Ewald Keller fügt an: „Eine gewisse Skepsis hat man schon. Aber er hatte sein selbst geschnitztes Kissen dabei, wir haben eine Probefahrt gemacht – das war völlig unproblematisch.“ Donath wird eingeplant wie jeder andere Fahrer auch, er hat keinen speziellen Lkw, keine spezielle Strecke. Von Sonntagabend bis Freitagabend ist er unterwegs – ein Job für Junggesellen. Er schläft im Lkw, wie es das Gerüst von Fahr-, Arbeits- und Ruhezeiten gerade vorsieht. An Bord hat Jojo einen Laptop mit Routenplaner, auf dem er sich gelegentlich einen Film auf DVD ansieht. Das war’s dann auch mit Freizeitvergnügen.

In den wenigen Nächten zu Hause wacht Donath manchmal auf: „Habe ich eine Kurve verpasst?“ Die Konzentration am Steuer wirkt nach. Bald geht’s wieder los. Gegen 22 Uhr wird er auf dem Hof der Spedition einen leeren Lkw in Empfang nehmen. Am Montag um 6 Uhr soll er im französischen Saint Avolt Acryl laden. Für den Fernfahrer Joachim Donath beginnt eine weitere Woche auf der Straße.

Detlev Brockes

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