Wo man sich kennt: Krügers Redder in Bramfeld
(aus Hinz&Kunzt 128/Oktober 2003)
Eon | Hanse präsentiert: Die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: Die Straße „Krügers Redder“.
Heinz Martens’ Wohnung endet nicht an seiner Wohnungstür. Wenn er seine Mütze aufsetzt und hinaustritt, steht er auf der Straße, in der er schon seit mehr als 40 Jahren wohnt. Dann dreht er seine Runde. Auf dem Weg sammelt er Gespräche ein. Er kennt fast jeden, der seinen Weg kreuzt. Ein Plausch hier, eine Flachserei da, dann lässt er Krügers Redder hinter sich. So heißt die kleine Straße in Bramfeld, in der Herr Martens wohnt. Er geht am Zeitschriftenladen vorbei, in dem er immer seinen Lottoschein ausfüllt, zum Bäcker um die Ecke.
Dort steht der 80-Jährige mindestens zwei Mal am Tag hinter der großen Glasscheibe und trinkt seinen Kaffee. Allerhöchstens hier endet seine Wohnung. Aber auch das ist nicht sicher, denn seine wachen Augen hinter der großen Brille haben viel von der Welt gesehen und tun es noch.
„So ein Leben als Rentner ist äußerst stressig“, sagt er, und seine Augen schmunzeln. Er ist gern unter Leuten, früher schon, was soll er denn den ganzen Tag in seinen 16 Wänden? Er lebt allein in den vier Zimmern, ein Fernseher ist da, aber höchstens am Abend mal eingeschaltet. Die kleine Straße vor seinen Fenstern ist schmal und läuft in einem engen Weg aus. Krügers Redder ist eine Sackgasse, die den Namen einer alten Milchhändlerfamilie trägt, und in ihrer Ruhe und Abgeschlossenheit viele alte und neue Geschichten bewahrt.
Herr Martens steht auf dem Weg zwischen Hecken und roten Klinkerhäusern und schnackt mit Jens Timmermann. Der 65-Jährige ist Verwalter und Vermieter fast aller Wohnungen im Krügers Redder. Seit 250 Jahren gehört der Familie Timmermann das Grundstück, auf dem vor einem halben Jahrhundert noch Kühe weideten und ein Bauernhof stand. Dann wurde die Landwirtschaft allmählich vom Verkehr überrollt. „Wir kriegten die Heuwagen nicht mehr nach Hause gefahren und die Kühe nicht mehr zurückgetrieben“, erzählt Jens Timmermann. Eine Kuh hatte sich mal mit einem Autofahrer angelegt, der ihr in die Hacken fuhr. Die Kuh gewann. Kühlwasser floss auf die Straße, der Autofahrer fluchte. Aber es war nur ein Sieg auf Zeit. Jens Timmermann besitzt ein vergilbtes Schwarz-Weiß-Bild. Darauf die letzte Kuh von Krügers Redder mit ihrem Kalb auf der Wiese. Das Kalb kam als einziges und letztes in den Genuss, am Euter der Mutter zu saugen und nicht mit Ersatznahrung abgespeist zu werden. Dadurch wurde es so stark, dass es aus dem Stand über den Zaun springen konnte. Aber das Kalb verlor. Es wurde geschlachtet. Der Bauernhof der Familie musste weichen. Ende der fünfziger Jahre entstanden hier die ersten Wohnhäuser.
Die Mieter kamen sofort und in Scharen. Wohnungen waren extrem knapp zu der Zeit. Für viele war es das erste eigene Heim. Auch Herr Martens wohnte bei einem Freund, bevor er als einer der ersten Mieter hier einzog. „Damals herrschte noch Ordnung!“, sagt Jens Timmermann und lacht. Er erzählt von seinem Vater, dem alten Timmermann. „Machense dat mal wech da“, pflegte er seinen Mietern zu sagen, wenn die Leute Slips auf den Balkon hängten statt auf den Trockenboden. Und die Witwe Neumann stellte er vor die Wahl: „Heiraten oder ausziehen“, als sie in Erwägung zog, sich einen neuen Lebensgefährten zu suchen. Sie blieb, unverheiratet. „Vielleicht ist mir so einiges erspart geblieben“, zog sie als Resümee.
Auch jetzt hängen keine Slips auf den Balkons von Krügers Redder. Obwohl sie es könnten. Allenfalls mal Kakteen statt Blumen in den Fenstern. Dafür stehen auf den Klingelschildern heute oft zwei Namen. Die Zeiten haben sich also geändert. Aber nicht in jeder Hinsicht. Denn Jens Timmermann ist nicht nur mit der Vergangenheit vertraut. Er wohnt ja selbst hier, ganz oben, über den beinahe 200 Wohnungen der Straße. Auch er dreht jeden Tag hier seine Runde. Er trägt einer alten Frau die Gehhilfe die Treppen hinauf. „Wir sind hier eine große Familie, ohne aber einander in den Pott zu gucken“, charakterisiert er das Leben in der kleinen Straße. „Die Paketdienste lieben Krügers Redder. Es gibt keinen, der ein Paket für den Nachbarn nicht annehmen will.“ Niemand geht ohne einen Gruß vorbei. Einmal im Jahr gibt es ein Mieterfest.
Eine kleine Oase, diese Straße, so grün, dass die Luft merklich frischer wird, wenn man von der hektischen Bramfelder Chaussee einbiegt. Ein großer Baum zwischen zwei Backsteinhäusern schließt die Lücke zu der lauten, verkehrsbeladenen Straße. Die Mieter haben ihn täglich gegossen und so über den trockenen Sommer gebracht. Eine abgeschlossene, ruhige Welt. „Was fotografieren Sie denn da?“, fragt eine Frau im Blumenrock den Fotografen, der für diese Geschichte gerade nach Motiven sucht. „Das hat schon seine Richtigkeit“, beruhigt Herr Martens sie. Jens Timmermann ruft einem Fahrradfahrer, der viel zu schnell über die Steinplatten flitzt, im Scherz nach: „Das ist ein Gehweg, du Holzkopf!“ „Selber Holzkopf!“
Und Herr Martens spaziert derweil die Straße und sein Leben entlang. Auch früher war er immer unterwegs. Sein Beruf und sein Naturell verlangten es. Er arbeitete als Journalist und machte die Öffentlichkeitsarbeit für ein großes amerikanisches Unternehmen in Hamburg. Er sah Paris, Stockholm, New York, Singapur. Seine Frau war so oft allein, dass sie sich irgendwann dachte: Dann kann ich auch allein allein sein. „Wir haben aber heute noch Kontakt“, sagt Herr Martens jetzt etwas ernster, „man muss sich ja nicht mit der Pfanne den Schädel einschlagen, nur weil man sich trennt“, und da ist er wieder, der Schalk in seiner Stimme.
Er holt drei Presseausweise aus den siebziger und achtziger Jahren aus der Schublade. Auf jedem Foto sieht er ein wenig anders aus. Aber immer die verschmitzten Augen durch eine große, manchmal sehr große Brille, wie es damals Mode war. Auch heute reist er noch gern. Mit dem Schiff bis nach China. Zu Hause dreht er kleinere Runden, hilft Kindern bei den Hausaufgaben, für die er „der Heinzi“ ist. Er repariert auch mal einen Durchlauferhitzer vom Nachbarn, wenn der Hausmeister keine Zeit hat. Und weil Herr Martens Geplänkel und Scherze so liebt, ist kein Gespräch mit ihm todernst. „Wollen sie ihren Kaffee heut mit Zyankali?“ „Klar, wenn sie einen mittrinken!“ So ein typischer Dialog beim Bäcker. Dann fragt er in scherzhaftem Ernst: „Sie können doch bestätigen, dass ich ein ernsthafter Mensch bin?“ Herr Martens, das wandelnde Tageblatt. Der bunte Hund. Der Spinnbeutel. Der Charmeur. Herr Martens, der Mann, der die Geschichten weiß.
Jetzt trinkt er seinen Kaffee beim Bäcker. Er beobachtet die Menschen draußen. Sie kommen über die Straße, wenn die Ampel auf Grün zeigt, aus dem Baumarkt gegenüber, aus dem Bus, der alle fünf Minuten direkt vor dem Bäcker hält. Herr Martens kennt viele von denen, die vorübergehen.