Wie zwei Polizisten eine „Störung“ beseitigten
(aus Hinz&Kunzt 126/August 2003)
Als Wolfgang H. am Abend des 6. Dezember zu Boden stürzt, eilen schnell Helfer herbei. Wie ein geschlagener Baumstamm donnert der groß gewachsene Mann auf die Steinfliesen. Es ist Freitag kurz vor Ladenschluss, und der Supermarkt am Frankendamm in Stralsund ist gut gefüllt. Wolfgang H. hat an diesem Nikolausabend besondere Beachtung erfahren. Mit einem Bekannten ist er direkt auf das Schnapsregal zugegangen, hat eine der hochprozentig gefüllten Flaschen geöffnet, sie angesetzt und in großen Schlucken daraus getrunken. Das hat den Marktleiter auf den Plan gerufen: „Wir sind keine Kneipe hier! Gehen Sie bitte zahlen!“, sagt er. Nach der zweiten Aufforderung gehen die beiden Alkohol-Liebhaber ohne Murren zur Kasse, zahlen, wollen gehen – und plötzlich stürzt Wolfgang H.
Was in der folgenden halben Stunde passiert ist, darum geht es im Prozess am Stralsunder Landgericht. Angeklagt sind die beiden Polizeibeamten Ronny D. und Rainer V. Sie haben, so viel räumen sie inzwischen ein, Wolfgang H. an diesem Abend „verbracht“, wie es im Polizeijargon heißt: in ihren Streifenwagen geführt und fünf Kilometer entfernt auf einem Acker bei Freienlande zurückgelassen – mitten im Winter, bei eisiger Kälte. Ein Spaziergänger fand den Obdachlosen am nächsten Morgen tot auf dem Boden liegend – genau dort, wo ihn die Beamten sich selbst und dem Frost überließen.
„Alkoholvergiftung in Kombination mit Unterkühlung“, daran ist der 35-Jährige laut Gerichtsmedizin gestorben. Sind die Polizisten der „Aussetzung mit Todesfolge in Tateinheit mit Freiheitsberaubung“ schuldig, wie die Staatsanwaltschaft glaubt?
Die Beschuldigten haben für die Verhandlung dunkle Anzüge gewählt. Sie wollen ihre Tat offensichtlich als tragisches Unglück verkaufen. „Ich kenne das aus eigener Erfahrung: Wenn man mal was trinkt und dann zu Fuß nach Hause geht, bekommt einem das sehr gut“, sagt Polizeiobermeister V., ein 46-jähriger Vater von vier Kindern, zu seiner Verteidigung. Seine hohe Stimme bildet einen auffälligen Kontrast zur kräftigen Statur.
Der mitangeklagte D., ein 26-Jähriger mit Schnauzbart, hat es mit den Worten nicht so: „Ich will nicht wissen, wie das ausgegangen wäre“, sagt D. der Richterin, als diese ihn fragt, warum sie den Wohnungslosen nicht einfach haben gehen lassen. Dann bemerkt er seinen Lapsus und ergänzt: „Obwohl, so wie’s ausgegangen ist, ist es auch nicht schön…“
Rückblende: Es hat leicht geschneit an jenem Nikolausabend, als H. seinen Kumpel Dieter B. auf der Straße trifft. B. hat von Bekannten ein paar Möbel geschenkt bekommen. Nun steht er vor seiner Wohnung und sucht einen Träger. Da kommt „Epi“, wie B. den Wohnungslosen nennt, gerade recht. Ob er nicht mit anpacken könne? „Dann musst du einen ausgeben!“, antwortet H. „Epi war angetrunken, aber gut drauf“, erinnert sich B., ein älterer Mann mit grauem Gesicht und zerschlissenem Anorak, der sich „Fachjournalist“ nennt und über seine Alkoholsucht sagt: „Wenn Sie über 60 sind, ist das eine elegante Art und Weise, sich von diesem Planeten zu verabschieden.“
Um 19.45 Uhr an jenem Abend geht in der Notrufzentrale der Rettungswache ein Anruf ein: „Hilflose Person im Sky-Markt am Frankendamm“. Ein Krankenwagen fährt los und auch eine Polizeistreife. Derweil müht sich Marktleiter Manfred H., der den Notruf gesendet hat, um den Gestürzten. Der ist offensichtlich auf den Kopf gefallen und hat kurz das Bewusstsein verloren.
Um 19.51 Uhr eilen die Sanitäter in den Markt, wenige Minuten später die Polizisten. Wolfgang H. ist inzwischen aufgewacht. Marktleiter Hellwig hat ihn mit dem Oberkörper an die Wand gelehnt. Dass die Helfer um ihn herum in gewisser Weise seine Henker sein werden, ahnt der Gestürzte nicht. Es ist kurz vor 20 Uhr, als der Marktleiter Wolfgang H. den Sanitätern überlässt. Ob er ihnen sagt, dass der Gestürzte ohnmächtig gewesen ist? Der Marktleiter weiß es nicht mehr – die Sanitäter sagen nein. Sie untersuchen H. und kommen zum Ergebnis: Dieser Mann ist „leicht betrunken“, aber „zeitlich und räumlich orientiert“.
Da treffen die Polizisten ein. „Das ist kein Fall für uns!“, sagt ihnen Sanitäter Andreas S. Ob er auch mitteilt, dass H. zusammengebrochen ist? Der Sanitäter sagt ja – die Angeklagten nein. Sie behaupten, der Marktleiter habe gesagt: „Die Person stört den Ablauf!“ Der Marktleiter kann sich daran nicht erinnern. Er sagt: „Fest steht doch eins, Frau Richterin: Es geht auf acht Uhr zu und man will den Markt zumachen.“ Auch die Sanitäter haben eine Erklärung parat: „Ich wollte nicht, dass der mit seinem Kumpel weitertrinkt“, sagt S. vor Gericht. Deshalb habe er gedacht, der Mann sei bei den Polizisten in guten Händen.
Warum die Beamten Wolfgang H. dann in ihr Fahrzeug mitnehmen, bleibt unverständlich. „Warum haben Sie ihn nicht einfach gehen lassen?“, fragt die Richterin. „Weil die Sanitäter gesagt haben, das ist ein Fall für uns“, antwortet der Angeklagte V. „Warum?“ – „Um die Störung vor Ort zu beseitigen.“ – „Hätte es nicht genügt, ihm zu sagen: Gehen Sie jetzt bitte weg!?“ – „Er wollte ja nicht alleine aufstehen. Er saß dort und wollte nicht weg.“ – „Das ist in den Akten gar nicht aufgetaucht, dass Herr H. gesagt hätte: Ich will nicht weg!“
Im Gegenteil: Zeugen berichten, H. habe gesagt, er wolle „nach Hause“, in die Unterkunft für Obdachlose. Doch diesen Wunsch erfüllen ihm die Polizisten nicht. „Der hat ganz schön Glück gehabt, dass wir uns in der Gewalt hatten!“, soll einer der beiden Angeklagten gesagt haben, nachdem diese in die Polizeiwache zurückgekehrt waren.
Dass das tragische Ende des Wolfgang H. bekannt wird, ist Polizeiobermeister Axel R. zu verdanken. Oder besser gesagt: seiner Frau. Die hat ihn zur Aussage überredet. R. war nicht nur Kollege, sondern auch guter Freund des Angeklagten V. Als am Morgen des 7. Dezember die Leiche gefunden wird, nimmt die Kriminalpolizei Ermittlungen auf. Es scheint, als sei der Tote abgelegt worden: Auf dem Bauch liegend wird er gefunden, die Arme auf dem Rücken, die Jacke halb heruntergezogen.
Wenige Tage später offenbart V. seinem Freund, dass die Leiche von Freienlande „sein Fall“ gewesen ist. Als R. fragt, warum sie den Hilflosen so weit draußen auf dem Acker ausgesetzt haben, soll der Angeklagte geantwortet haben: „Wenn das ein normaler Bürger gewesen wäre, täte es mir Leid. Aber das war eh nur ein Knastbruder, eine Dreckfresse. Um den ists nicht schade.“ R. ist geschockt. Dennoch lässt er sich überreden, zu schweigen. „Einen Kumpel scheißt man nicht an!“, denkt er. Zwei Wochen später hält er den Druck nicht mehr aus.
Im Gerichtssaal würdigen sich die einstigen Freunde keines Blickes. R. spricht leise. Dem Hauptbelastungszeugen fällt die Aussage sichtlich schwer. „Ich hab es nicht verstanden. Warum sind sie so weit rausgefahren?“, sagt er. Und warum bloß hat sich sein ehemaliger Freund nicht durchgesetzt gegen den 20 Jahre jüngeren Kollegen? Der soll angeblich gesagt haben, H. sei ein Säufer, wie sein Vater, deshalb könne er Alkoholiker nicht leiden.
Die Angeklagten bestreiten, je solche Sätze gesagt zu haben. Sie werfen dem Zeugen gar vor, selbst „Ortsverbringungen“ durchgeführt zu haben. Es sei, sagen sie zu ihrer Verteidigung, bis zu dem Todesfall „übliche Praxis“ gewesen, Betrunkene etwa in Freienlande, bei der Mülldeponie Kedingshagen oder am Umspannwerk auszusetzen. Manche Kollegen bestätigen das vor Gericht, andere nicht. Polizeileitung und Innenminister dementieren.
Einmal an den vier langen Verhandlungstagen kommen dem Angeklagten D. die Tränen. Da erzählt der junge Mann, wie er nach Bekanntwerden der Vorwürfe zum Opfer einer „Hetzjagd“ wurde. Wie Fremde ihn auf der Straße anpöbelten und Schläge androhten mit den Worten: „Das ist doch der Bulle, der einen hat draufgehen lassen!“ Da stockt D. die Stimme, Tränen steigen ihm in die Augen, und er sagt: „Mir wurde nichts anderes beigebracht! Man guckt sich von den Kollegen ja was ab. Man wollte ja auch vorwärts kommen.“
Stattdessen wandern die Polizisten hinter Gittern. Drei Jahre und drei Monate Haft ohne Bewährung, urteilt die Große Strafkammer – und geht damit weit über die Forderung des Staatsanwalts hinaus. Der hielt eine Strafe von einem Jahr und drei Monaten auf Bewährung für angemessen. Die Tat der Polizisten sei eine reine Willkürmaßnahme gewesen, um dem Betrunkenen eine Lektion zu erteilen, so die Begründung der Richter. „Es gab keinen Grund, den Mann am Stadtrand auszusetzen. Ein Platzverweis hätte gereicht.“ Verteidiger und Staatsanwaltschaft beantragen Revision.
Nur wenige Tage vor seinem Tod schien Wolfgang H. auf dem Weg zu einem neuen, besseren Leben. Ein Krankenwagen hatte den Mann, der sich den gesamten Körper, sogar das Gesicht, hatte tätowieren lassen, in die Suchtklinik gebracht. Zehn Tage blieb H. dort und machte einen Entzug. Dann besiegte ihn der Alkohol doch wieder. H. verließ fluchtartig die Klinik, es war der 5. Dezember. Nur einen Tag später sollte er sterben.