Der Komponist Jörn Arnecke zur Uraufführung seiner ersten Oper – und über den Klang der Wirklichkeit
(aus Hinz&Kunzt 124/Juni 2003)
Plötzlich, ein magischer Moment. Mitten in diesem vollkommen unglamourösen Probenraum, wo Kreidelinien noch nicht mal ahnen lassen, wie später das Bühnenbild aussehen wird, wo das Licht hart ist und die Luft verbraucht, wo es natürlich noch kein Orchester gibt und das ganze „Fest im Meer“ noch als ein ziemlich loses Gebilde erscheint aus Texten und Tönen. Trotzdem: Als die beiden Mezzosoprane ein Duett anstimmen, als dann der Rest des Ensembles einfällt – da ereignet sich das Wunder Oper. Im Gesang erzählen die Stimmen etwas von unserem Leben, das in Worten allein nicht zu fassen ist.
In der Ecke, hinter der Pianistin, dem Dirigenten und dem Regisseur, sitzt still lächelnd derjenige, der maßgeblichen Anteil hat an diesem Wunder: Jörn Arnecke, 29, Komponist. Er widerspricht so ziemlich jedem Wunderkind- oder Wirrkopf-Klischee, das man über diesen Beruf haben kann. Schmal, blond, freundlich, unprätentiös wie seine verwaschenen Jeans. Einer, der mit dem Fahrrad fährt, gerne mit seiner Freundin ins Kino geht, interessiert Zeitung liest und über Politik diskutiert.
So wie andere in diesem Alter eben, nur dass Jörn Arnecke als Zehnjähriger begann zu komponieren: „Weil meine große Schwester Klavier spielte, wollte ich das auch lernen, und dabei habe ich dann auf meinem Keyboard angefangen so rumzuprobieren, was schön klingt.“ Er erzählt das, wie andere von ihrer Modellbauleidenschaft sprechen, und offenbar war es auch so – spielerisch und frei. „Da gab es keinerlei Erwartungsdruck, meine Eltern haben mir einfach einen geschützten Raum geboten, für den ich ihnen heute noch dankbar bin.“ So wie andere Kinder sich ihre eigene kleine Fußball- oder Eisenbahnwelt aufbauen, war es bei ihm die Musik – und in dem Maße, wie er sich im Leben entwickelte, habe es auch seine Musik getan. „Sie hat mich als Person bestärkt und auch von bestimmten Hemmungen befreit.“
Konsequent freiwillig bekam er zuerst Unterricht beim Kirchenkantor seiner Heimatstadt Hameln, nach dem Zivieldienst studierte er an der Hamburger Musikhochschule Komposition und Musiktheorie, später war er Stipendiat am Pariser Conservatoire National Supérieur. Er gewann mehrere bedeutende Nachwuchs-Preise, unter anderem bei der Komponisten-Werkstatt der Hamburgischen Staatsoper, die ihm anschließend den Auftrag erteilte, eine Oper zu komponieren.
Am Anfang stand eine Romanvorlage, ausgewählt von dem jungen Regisseur Christoph von Bernuth, mit dem der Komponist schon früher zusammengearbeitet hat. Daraus wurde ein Libretto geschrieben – die endgültige Textfassung für die Oper. Die zeitgenössische Geschichte „Das Fest im Meer“ kommt Jörn Arneckes Anspruch entgegen, neue Kompositionen müssten sich mit „unserer Wirklichkeit“ befassen. Damit meint er nicht nur offensichtliche Bezüge wie das Thema HIV, sondern Grundsätzliches: „Wie treffen wir heute Entscheidungen, wenn wir ständig mit unzähligen Möglichkeiten konfrontiert sind – das fängt ja schon im Joghurtregal an. Wie definieren wir Liebe, und was sind wir bereit, dafür zu tun? Wie finden wir zu einer wahrhaftigen Haltung? Solche Fragen versuche ich in Musik umzusetzen.“
Er vermeidet Phrasen, wenn er über solche Dinge spricht, sucht nach präzisen Formulierungen. So sorgfältig, wie er auch beim Komponieren nach den treffenden Tönen sucht. Dabei fühlt er sich keiner bestimmten „Schule“ oder irgendeinem Trend verpflichtet. Allerdings legt er, anders als viele zeitgenössische Komponisten, besonderen Wert auf die menschliche Stimme, „vielleicht, weil bei uns zu Hause viel gesungen wurde“.
Ansonsten zählt für ihn nur, „kein billiges Gefühl zu vermitteln und keine Klischeefolien zu verwenden“ – was in einer so lauten Welt, in der so ziemlich jede musikalische Äußerung irgendwann als Werbe-Jingle recycelt oder zumindest als Cover-Version verbraten wird, eine schwere Aufgabe ist. „Genau deshalb brauchen wir Komponisten, die unverbrauchte Klänge finden“, sagt Jörn Arnecke entschieden, „und die brauchen zuerst einmal Stille.“
Das meint er ganz wörtlich. Während er komponiert, hört er keine andere Musik, stöpselt das Telefon aus und zieht sich auch schon mal in ländliche Einsamkeit zurück. Doch im Alltag geht er dafür als ein Hörender durch die Welt, sammelt Geräusche und Klänge wie andere Menschen Gerüche oder Bilder. „Das ist natürlich häufig Musik, vor allem Klassik, manchmal auch Pop, aber auch Stimmen von Menschen, oder etwas ganz Banales wie das nächtliche Klacken meines Heizungsrohrs.“
Für Jörn Arnecke war dieser Auftrag vor allem „ein großes Glück“. Aber natürlich ist es für einen jungen Komponisten auch ein enormer Karriereschritt, der dazu verführen könnte, ein paar Effekte einzubauen, um die Fachwelt zu beeindrucken. „Natürlich nutzt man die Chance zu zeigen, was man handwerklich drauf hat“, sagt er, „aber die Versuchung, sich da eine Visitenkarte zu schreiben, sinkt, je weiter man ins Komponieren eintaucht. Dann entwickelt es seinen eigenen Sog“, beschreibt er die Arbeit der letzten anderthalb Jahre.
Bei einem so langen Werk wie „Das Fest im Meer“ müsse man erst ein Gerüst schaffen, einen Anfang und einen Schluss finden und für jede Figur einen Grundklang komponieren – „ähnlich wie ein Architekt. Und wenn man das hat, bewegt man sich von Zimmer zu Zimmer weiter und schmückt es aus.“ Sehr einsame Gänge seien das, oft voller Zweifel und offener Fragen, sagt Jörn Arnecke, „aber ich kann mir nichts anderes vorstellen, mit dem ich so ausgefüllt wäre.“ Um so mehr habe er die anschließende Probenzeit genossen, wo Dirigent und Regisseur, Orchester und vor allem die Sänger zum Leben erwecken, was bis dahin nur eine Idee war: „Wenn sich die Intensität, die man beim Komponieren angestrebt hat, bestätigt, wenn die Töne plötzlich etwas enthalten, was man vorher selbst nicht gewusst hat, dann geht einem schon das Herz auf.“ Magische Momente, wie sie nur die Musik bereithält.